Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Gewänder bedeckte. Doch diesmal achtete die Priesterin nicht darauf. Den Blick starr geradeaus gerichtet, folgte sie den Kriegern der Tempelgarde zu einer Gruppe von acht greisen Uzoma, die in geflochtenen Korbstühlen am Rand des Platzes saßen und ihr aus wettergegerbten Gesichtern würdevoll entgegenblickten.
Auf dem Platz war es plötzlich so still, dass man selbst das leise Knarren des Korbgeflechts hören konnte, das unter dem Gewicht eines dicklichen Stammesältesten ächzte. Eine gespannte Erwartung hing fast greifbar in der Luft, während Hunderte Augenpaare der Priesterin folgten, die so furchtlos und erhaben über den Platz schritt, als sei nichts geschehen.
»Nubarrou! Verräterin!«
Vhara hatte kaum die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen, als der keifende Schmähruf einer alten Frau das Schweigen brach. Er war noch nicht verklungen, da fielen auch die anderen Uzoma mit ein. Fäuste reckten sich in die Höhe, und kleine Steine flogen, als der Zorn erneut aufbrandete und wie ein Sturm über den staubigen Platz fegte. Ein spitzer Stein traf Vhara am Arm, ein anderer streifte ihre Wange, doch sie zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Unbeeindruckt und kühl trat sie den Kaziken, den Stammesältesten der Uzoma, entgegen und hielt wenige Schritte von den Korbstühlen entfernt inne. Schweigend verharrte sie im Sonnenlicht. Das Antlitz zu einer unbewegten Maske erstarrt, ließ sie den Blick zunächst über die Gesichter der Ältesten, dann langsam über die Menge schweifen.
Ihr selbstsicheres Auftreten verfehlte seine Wirkung nicht.
Die Menge verstummte. Ein letzter Ruf hallte über den Platz, dann war es wieder still.
Vhara wandte sich den Ältesten zu. Sie spürte die Entschlossenheit hinter den dunklen, von Falten zerfurchten Mienen. Wenige Herzschläge lang saßen die Stammesältesten noch abwartend nebeneinander, dann knarrte das Geflecht eines der Korbstühle, und ein Kazike erhob sich. Es war Ulan, der älteste Bewohner Udnobes, vermutlich sogar der älteste Uzoma überhaupt. Niemand kannte sein wahres Alter, doch seine Erinnerungen reichten weit zurück, und wenn er an den Feuern von der Vertreibung seines Volkes sprach, so mochte man glauben, er sei selbst dabei gewesen.
Langsam, das Haupt mehr von der Last der Winter als vor Demut gesenkt, trat er vor. Wie alle männlichen Uzoma trug auch Ulan als sichtbares Zeichen seines Standes einen reich bestickten, ärmellosen Umhang, der in der Taille von einem breiten Gürtel gehalten wurde. Das kahl geschorene Haupt wurde von dem traditionellen Kamantan bedeckt, einer mit hellen Quasten besetzten Kappe aus dunklem Gewebe, die ihm wie eine falsche Haartracht bis auf die Schultern hinabreichten.
Die vielen hundert Bänder – Zeichen der Ehre –, die sich ihm bis hinauf zu den Ellenbogen um die knochigen Unterarme wanden, mochten einst bunt gewesen sein, doch die grellen Farben waren im Verlauf der Winter verblasst, und farbige Fransen ragten aus der Masse der Umschlingungen hervor.
Ulan zeigte keine Schwäche, als er vor die Priesterin trat. »Priesterin Vhara«, sagte er mit spröder Stimme. »Die Worte, mit denen du Kwamin des Verrats beschuldigtest und seinen Tod rechtfertigtest, waren gut gewählt. Überzeugen konnten sie uns nicht. Das, was geschehen ist, ist nicht allein Kwamins Schuld – wie du uns glauben machen wolltest.« Er hustete, und es klang wie das Rascheln von trockenem Papier. »Mein Volk hat alles verloren. Das Glück hat uns verlassen. Ohne die Männer, die auf der anderen Seite des Arnad gefangen sind, sind wir ein sterbendes Volk.
Du sprachst zu uns von Hoffnung und von Mächten, denen die Vereinigten Stämme nichts entgegenzusetzen hätten. Doch diese Zuversicht können wir nicht teilen. Zu viel haben wir verloren, zu tief sitzt unser Schmerz. Der Gott, dem du dienst, hat uns Regen gebracht und uns vom Hunger befreit. Den versprochenen Sieg und die alte Heimat jedoch brachte er uns nicht.« Er hob den dürren Arm und deutete mit dem Finger anklagend auf Vhara: »Durch dich sprach er zu uns. Ihm huldigten wir durch die Kraft des Blutes. Doch am Ende waren es deine Worte und die des Whyono, die unsere Söhne in den Krieg trieben. Kwamin mag einen Verrat begangen haben. Doch du trägst größere Schuld an dem, was …«
»Nun sag schon, worauf du hinauswillst, Ulan«, unterbrach Vhara den Redeschwall des Alten. Der abfällige Ton, den sie wählte, machte keinen Hehl daraus, dass die Ausführungen des Stammesältesten für
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