Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
und oft schonungslosen Vorgehensweise gefürchtete Stammesfürst lehnte sich betont lässig an die Stuhllehne und säuberte sich mit einem schmalen Dolch die Fingernägel. Er war einer der wenigen Stammesfürsten, die beim Angriff auf dem Pass selbst ein Schwert geführt hatten, und der Einzige, der das blutige Gemetzel überlebt hatte. »Was für ein törichtes Gerede«, spottete er. »Es sind Krieger. Sie haben den Befehlen ihrer Stammesfürsten Folge zu leisten.«
»Dann muss der Whyono zu den Kriegern sprechen!«, rief einer der Stammesfürsten aus.
»Der Whyono?«, fragte Cahr mit einem geringschätzigen Lächeln, das merkwürdig anstößig wirkte. »Meinst du diesen feigen und feisten Humarden, der sich nach der schmählichen Niederlage wie ein verängstigtes Kind in seinem Zelt verkrochen hat? Diesen vollgefressenen …«
»Führe nicht schändliche Rede gegen unseren obersten Herrscher«, fuhr der Stammesfürst ihn an. »Die Krieger sind ihm treu ergeben. Sie sehen zu ihm auf und …«
»So, tun sie das?« In einer plötzlichen Bewegung rammte Cahr den Dolch in die Tischplatte und sprang auf. Mit enormer Willensanstrengung beherrschte er seinen Zorn, doch das leidenschaftliche Feuer in seinen Augen zeugte davon, wie aufgewühlt er war. »Wo ist er denn, unser Whyono?«, fuhr er sein Gegenüber an und machte eine ausladende Geste mit der Hand. »Ich kann ihn gar nicht sehen. Wäre es nicht die Aufgabe eines verantwortungsbewussten Heerführers, hier und jetzt vor uns zu stehen und uns in seine Pläne einzubinden? Wäre es nicht seine Aufgabe, den Kriegern da draußen Hoffnung und neuen Mut zu geben? Den Befehl, noch einmal anzugreifen oder die Anweisungen zum Rückzug – eben irgendetwas zu tun?« Er wandte sich ab und spie verächtlich auf den Boden. »Aber was macht er, unser Whyono? Statt Stärke zu zeigen, verkriecht er sich und bemitleidet sich selbst. Er …«
»Cahr!« Kruin erhob mahnend die Stimme, um dem respektlosen Wortschwall ein Ende zu bereiten. »Die Schwäche des Whyono ist uns wahrlich nicht entgangen, aber Vorwürfe und Schuldzuweisungen bringen uns jetzt nicht weiter«, sagte er belehrend, während er Cahr gleichzeitig mit einer knappen Handbewegung aufforderte, sich wieder zu setzen. »Auch wenn wir seit nunmehr zwei Tagen vergeblich auf seine Befehle warten, gibt es uns nicht das Recht, schändliche Rede über ihn zu führen. Auch wir tragen Verantwortung. Es ist an uns zu handeln.«
Cahr warf Kruin einen verächtlichen Blick zu und spie noch einmal auf den Boden. Für wenige Herzschläge blieb er noch stehen, dann zog er den Dolch aus der Tischplatte und setzte sich.
»Was also können wir tun?« Ratlosigkeit klang aus der Frage, die ein anderer Stammesfürst in den Raum warf. »Der Spähtrupp hat bestätigt, was die Gerüchte bereits besagten. Die Lagaren haben uns im Stich gelassen, und der Plan, die Festung noch vor Einbruch des Winters einzunehmen, ist kläglich gescheitert. Wir können nicht umkehren. Jeder im Heer weiß, dass die magischen Nebel wieder über dem Arnad stehen. Es gibt kein Zurück! Diesmal werden wir nicht während der kalten Monde zu unseren Familien zurückkehren können, um neue Kräfte zu sammeln … vielleicht niemals wieder. Wir haben alles verloren. Was also sollen wir den entmutigten Kriegern sagen? Womit können wir ihnen angesichts des großen Unglücks Hoffnung machen? Wie den Zerfall des Heeres verhindern?«
»Nun, ich wüsste es.« Cahr, der sich wieder mit seinen Fingernägeln beschäftigte, gähnte so betont, als langweile ihn der Wortwechsel.
Alle Blicke richteten sich auf den Stammesfürst, doch dieser tat, als gäbe es gerade nichts Bedeutsameres als die Schwärze unter seinen Nägeln. Sich der allgemeinen Anspannung durchaus bewusst, nahm er sich die Zeit, auch den letzten Fingernagel zu reinigen. Sichtlich zufrieden hielt er seine schwielige Pranke ins Licht, nickte und wandte sich dann endlich den anderen zu. »Wir müssen ihnen den Schuldigen liefern«, erklärte er knapp.
»Den Schuldigen?« Die Stammesfürsten, die sich auf Kruins Ruf im Versammlungszelt eingefunden hatten, wechselten über die leeren Stühle der Gefallenen hinweg verständnislose Blicke. Für endlose Herzschläge blieb das frostige Knarren der Zeltplane das einzige Geräusch, bis sich Jumah schließlich ein Herz fasste und aussprach, was alle dachten: »Und wer sollte das sein?«
Cahr lächelte. Ein flaches, tödliches Lächeln. Er sah die Furcht in den Augen der
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