Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
»Er trägt eine Botschaft bei sich.« Mit der freien Hand löste er das kleine Pergament vom Bein des Falken und reichte es Gathorion, der es sogleich ausrollte und die wenigen Zeilen überflog, die darauf geschrieben standen. »Seltsame Dinge gehen vor in Nymath«, sagte er, ohne näher auf das einzugehen, was er gerade gelesen hatte, und schaute ernst von einem zum anderen. »Sehr seltsame Dinge.« Er deutete auf die hölzerne Treppe, die von der Brustwehr hinunterführte. »Lasst uns in den großen Versammlungsraum gehen«, forderte er die anderen auf. »Wir haben viel zu besprechen.«
Die Sterne verblassten, lange bevor sich die glutrote Sonnenscheibe über die eintönige Wüstenlandschaft erhob.
Der zarte rosige Streifen am östlichen Horizont, der schon früh die Rückkehr des Lichts ankündigte, schwoll langsam an und gipfelte schließlich in einem farbenprächtigen Morgenrot, das den ganzen Himmel erfasste. Während sich weit im Westen noch ein letzter Stern gegen die überwältigende Lichtflut behauptete, tasteten sich im Osten die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont und vertrieben mit rotgoldenen Fingern die feuchte Kälte der Nacht aus den Tälern und Mulden zwischen den roten Sanddünen.
Vhara begrüßte die Wärme wie ein Geschenk. Sie hatte die Dunkelheit nutzen wollen, um neue Kräfte zu schöpfen. Da sie aber nur eine dünne Decke mit sich führte, die sie kaum vor der nächtlichen Kälte schützte, hatte sie keine Erholung gefunden.
Als die wärmenden Sonnenstrahlen ihren Lagerplatz erreichten, erhob sie sich mit steifen Gliedern und klopfte sich verärgert den Sand aus den Gewändern. Der Plan der Uzoma, sie zu töten, war fehlgeschlagen, doch was daraus erwuchs, war so beschämend und entwürdigend, dass es ihren Hass auf das dunkle Volk noch weiter schürte. Niemals zuvor hatte sie ohne Lakaien reisen müssen, niemals selbst dafür Sorge tragen müssen, dass die Nächte in der Wüste erträglich für sie waren. Als besonders demütigend aber empfand sie es, dass sie sich ohne ihr Pferd zu Fuß einen Weg durch die Wüste bahnen musste.
Ihr Ziel – die Berge im Nordwesten – fest vor Augen, machte sie sich mürrisch auf den Weg. Sie verspürte weder Hunger noch Durst, nur glühende Wut auf jene, die es wagten, sich ihren Plänen entgegenzustellen, die sie derart erniedrigten und denen es gelungen war, ihre Reise zum Orma-Hereth zu verzögern.
Verzögern! Vhara ballte die Fäuste. Ihre Feinde mochten einen winzigen Vorteil errungen haben – aufhalten konnten sie sie nicht.
Ein grimmiges Lächeln umspielte die Lippen der Hohepriesterin, als sie sich in Gedanken noch einmal die Einzelheiten ihres Plans in Erinnerung rief.
Für den Pakt mit der Serkse war alles vorbereitet. Einzig ihr Wort fehlte noch, um gemeinsam mit der Herrin des Wehlfang das mächtige Heer auszuheben, das Nymath am Ende vernichten würde. Nichts würde überdauern. Nichts würde bleiben. Nichts außer Asche und schwarz verbrannter Erde.
Vhara stieß einen spöttischen Laut aus. Ihre Stimme klang seltsam verloren in der erhabenen Stille der Wüste, doch das beunruhigte sie nicht. Nicht mehr lange, dann würde sie vollenden, was …
Eine winzige Bewegung in einer nahen Senke ließ sie innehalten. Es war nicht mehr als nur die Ahnung einer Bewegung. Ein Nachgeben von Sand, das sie aus dem Augenwinkel bemerkt hatte. Aber es genügte, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken.
Reglos verharrte sie auf dem Dünenkamm, schaute in die Mulde hinab und wartet darauf, dass sich die Bewegung wiederholte.
Lange geschah nichts, doch als sie schon glaubte, sich getäuscht zu haben, gab der lockere Sand am Boden der Senke erneut nach. Langsam, fast unmerklich entstand zunächst ein winziger Kreis, der sich rasch vergrößerte und in dessen Mitte die staubfeinen Sandkörner wie in einem Trichter in die Tiefe rieselten. Nur wenige Augenblicke später bildeten sich rings um diesen Krater weitere Kreise, in denen der Sand auf die gleiche unerklärliche Weise entschwand.
Erstaunt und gleichsam beeindruckt beobachtete die Hohepriesterin das seltsame Schauspiel am Grund der Senke. Dort hatten sich binnen kürzester Zeit mehr als zwei Dutzend Löcher gebildet, in denen der Sand nahezu geräuschlos von der Tiefe aufgesogen wurde.
Dann, ganz plötzlich, erwachte der Boden zum Leben. Loser Sand wurde in die Höhe geworfen, und der vermeintlich feste Boden wogte so heftig hin und her, als sei die Mulde mit kochendem Wasser gefüllt.
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