Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Unmengen feiner Sandkörner wurden emporgeschleudert, und winzige Steinchen flogen so weit, dass Vhara sie auf der Haut spürte. Der aufgewirbelte Staub hingegen hing bleiern in der windstillen Luft des Morgens und hüllte alles Geschehen am Grund der Senke binnen kurzem in einen dichten roten Nebel.
Dann ertönte ein Schrei, ein schriller spitzer Schrei, misstönend und krächzend, wie Vhara ihn nur ein einziges Mal vernommen hatte: einen halben Silbermond zuvor, als die Uzoma ein Lagarenweibchen und zwei ihrer Jungen nach Udnobe gebracht hatten. Plötzlich wusste sie, was dort unten vor sich ging.
Sie stand vor einem Lagarengelege!
Die riesigen geflügelten Echsen lebten weit entfernt am Rande der Nunou. Wenn die Zeit nahte, so hieß es, flogen die trächtigen Weibchen weit in die Wüste hinein und legten ihre Eier dort in eine Mulde, die sie zuvor gescharrt hatten. Mehrere Silbermonde blieb das Gelege im heißen Sand verborgen, während die Sonnenwärme die Nachkommen ausbrütete.
Ein Lagarengelege!
Obgleich Vhara in großer Eile war, gönnte sie sich einen Augenblick des Innehaltens, um das seltene Schauspiel zu beobachten. Inzwischen waren mehr als zwanzig Lagarenjunge geschlüpft. Die kleinen Flugechsen fiepten und krächzten und schnappten in der Enge nach ihren Brüdern und Schwestern, die immer wieder zornig aufkreischten.
In der Senke herrschte ein heilloses Durcheinander.
Während die zuletzt Geschlüpften noch unbeholfen versuchten, die Reste der lederartigen Eihaut abzustreifen, machten sich die ältesten bereits daran, den Rand der Mulde zu erklimmen. Dabei stellten sie sich ausgesprochen ungeschickt an. So mancher Anstieg endete in kauzigen Purzelbäumen vor den wütend schnappenden Mäulern der Geschwister, und Vhara konnte nicht umhin, die tapsigen kleinen Flugechsen für ihre Ausdauer zu bewundern.
Der Anblick der Jungtiere berührte etwas in ihr und weckte die Erinnerung an längst vergangene Zeiten.
Wie von selbst wanderten ihre Gedanken weit zurück zu einem sonnigen Morgen in ihrer Kindheit. Zu einem Ereignis, das sie längst vergessen geglaubt hatte und das nun mit aller Macht aus den Tiefen ihres Bewusstseins empordrängte.
Die Mulde und die Lagarenjungen verschwammen vor ihren Augen und wichen dem Anblick von zehn Welpen, die sich säugend und schmatzend an die Zitzen ihrer Mutter drängten. Die jungen Hunde waren schon recht groß; nicht mehr lange, und die Hündin würde ihnen die Milch verweigern. Wie alle Kinder ihres Dorfes war auch Vhara in die kleinen Hunde verliebt. Ein rotbraunes Weibchen hatte ihr Herz gewonnen. Da sie, anders als ihre Brüder und Schwestern, nicht arbeiten durfte, hatte sie sich jeden Tag heimlich zu den Hunden geschlichen, um mit ihnen zu spielen.
Sie wusste, dass es ihr verboten war. Sie war die Siebente und durften ihr Herz nicht an andere Lebewesen hängen. So wie niemand die Siebenten liebte, durften auch sie keine Liebe schenken. Ihr Leben war zu kurz. Eine Bindung an sie bedeutete Kummer und Leid, denn allen war nur zu bewusst, dass der Tag der Opferung alle Bande zerstören würde. Selbst jetzt noch durchfuhr Vhara ein brennender Schmerz, wenn sie daran dachte, wie ihre Mutter abends all ihre Kinder in den Arm nahm und ihnen zur Nacht einen Kuss auf die Stirn hauchte – allen außer ihr. Für das siebente Kind gab es keine Zärtlichkeiten und keine liebevollen Worte. Es gab auch keinen Trost, außer dem, den sie sich selbst in ihrer Einsamkeit spendete. Sie war das Opferlamm, das man hegte und pflegte, denn es hieß, dass es Unglück über die Sippe bringe, wenn das siebente Kind vor der Opferung starb. Sie bekam stets den Vorzug vor ihren Geschwistern, doch all das gute Essen, den weitaus behaglicheren Schlafplatz und die prächtigen Gewänder hätte sie mit Freuden hergegeben, wenn sie nur einen einzigen Kuss ihrer Mutter dafür hätte bekommen können.
Aber Liebe und Zuneigung blieben ihr versagt. Als Siebente wurde sie geehrt, geliebt wurde sie nie.
Lange wollte sie das nicht wahrhaben – bis zu dem Morgen, an dem man sie bei den Hunden entdeckte. Ihr Vater war es, der zufällig in den Stall kam und sah, wie sie die kleine rotbraune Hündin liebkoste. Das zorngerötete Gesicht, mit dem er auf sie zukam, ihr den winselnden Welpen aus den Armen riss und das, was sich daraufhin ereignete, sollte sie noch viele Winter später in ihren schlimmsten Träumen verfolgen.
Doch damals, an dem sonnigen Morgen, konnte sie nicht verstehen, was
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