Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Sie keuchte und stützte sich schwer auf ihren Stab.
Unter Aufbietung aller Kräfte formte sie in Gedanken einen Laut, den sie dem Raapir sandte, als hätte dieser ihn selbst vernommen. Es war der einzige Laut, den die große Echse fürchtete. Der Ruf des einzigen Lebewesens, das einem Raapir gefährlich werden konnte: der Beuteschrei eines Lagaren.
Was darauf geschah, war so erstaunlich, dass selbst Vhara überrascht war. Kaum war der Schrei in das Bewusstsein des Raapirs eingedrungen, erstarben alle Gefühle, die der Jagd dienlich waren, und wichen einem Urinstinkt, der noch mächtiger war – der Flucht.
Vhara spürte, wie die Echse erzitterte, wie sie versuchte, den Blickkontakt zu unterbrechen, um den Himmel nach dem herannahenden Todfeind abzusuchen, und wie sich der ganze Körper auf eine schnelle Flucht vorbereitete, doch noch entließ sie die Bestie nicht aus ihrem Bann.
Sie musste sichergehen.
Erneut sandte sie den Schrei eines Lagaren in das Bewusstsein des Raapirs und fügte nun auch das Bild des Schattenrisses einer übergroßen Flugechse hinzu, der sich vor dem Hintergrund der Sonne düster und bedrohlich am Himmel abzeichnete.
Das Bild trieb den Raapir fast zur Raserei. Unter wildem Fauchen zuckten seine Klauen über den Boden, während er vergeblich davonzulaufen versuchte. Doch selbst jetzt blieb Vhara noch ruhig.
Ein letzter Lagarenschrei, den sie laut und gut vernehmlich an sein Gehör sandte, fachte seine Fluchtinstinkte weiter an. Dann endlich durchtrennte sie die Verbindung zu seinem Geist und gab ihn frei.
Eine gelbe Staubwolke stieg vom Boden auf, als der Raapir auf der Stelle herumwirbelte und mit angelegtem Fächer blitzartig in die Wüste flüchtete. Es war geradezu unglaublich, zu welcher Geschwindigkeit er selbst nach dem langen Ritt noch fähig war.
Vhara hingegen fühlte sich völlig erschöpft. Zum ersten Mal seit vielen hundert Wintern hatte das Wirken von Magie sie solche Kraft gekostet, dass sie sich völlig ausgebrannt fühlte. Es war eine Schwäche, die nicht dem Mangel von Wasser oder Nahrung entsprang, sondern vielmehr dem Aufbegehren der Uzoma und den fehlenden Blutopfern, aus denen sie ihre Macht zu schöpfen pflegte. Ihr Tempel war zerstört. Nun war sie wieder allein auf die Kraft der Blutopfer Andauriens angewiesen, die ihrem Meister auf den dortigen schwarzen Altären dargebracht wurden und die sie mit seinen anderen Priesterinnen teilen musste.
Aus Erfahrung wusste sie nur zu gut, dass der Augenblick der Schwäche bald vergehen würde, dennoch empfand sie ihre Ausgezehrtheit als zutiefst demütigend.
Langsam wandte sie sich dem Höhleneingang zu, um den letzten Abschnitt ihrer Reise anzutreten – und hielt erschrocken inne. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte sie vor dem Hintergrund des schwarzen Gesteins eine vertraute Gestalt zu sehen, die sie aus der Ferne schweigend beobachtete: die Gestalt eines Mannes in dunklem Gewand, der einen Hut mit breiter Krempe trug. Und wie um ihren Verdacht zu bestätigten, trug ihr ein Luftzug im nächsten Augenblick den unverkennbaren Geruch von Ecolu zu.
Doch wie schon in Udnobe, als sie den Dunkelgewandeten zwischen den Hütten zum ersten Mal zu sehen geglaubt hatte, war der Eindruck auch dieses Mal zu kurz, um ihn wirklich zu fassen.
Schon einen Wimpernschlag später war er verschwunden, und in der Luft lag nur mehr der beißende Geruch von Rauch und Schwefel.
Am Abend desselben Tages, an dem Ajana, Keelin und Bayard die Schönheit des immergrünen Tals erblickten, erreichten auch die drei Uzoma die geheimnisvolle Heimat der Vaughn, die dem eisigen Griff des Winters auf wundersame Weise zu trotzen schien.
Die späte Ankunft der Stammesfürsten blieb weitgehend unbemerkt, denn die Angehörigen des kleinen Volkes waren vorsichtig.
Sie wussten um die Feindschaft zwischen den Uzoma und den Vereinigten Stämmen und versuchten, eine mögliche Auseinandersetzung zu umgehen, indem sie die Teilnehmer an dem Tribunal zunächst strikt voneinander trennten. So fanden die Uzoma im Osten des Tals eine gastfreundliche Unterkunft, während die anderen im westlichen Teil der ausgedehnten Wohnhöhlen untergebracht wurden.
Nachdem Ajana, Keelin und Bayard am Morgen das Tal erreicht hatten, waren sie von Ylva empfangen worden, der Seherin des kleinen Volkes.
Für lange Erklärungen oder Gespräche hatte jedoch die Zeit gefehlt. Die drei waren müde und erschöpft gewesen und hatten nach einer kräftigenden Mahlzeit
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