Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
gebräunten Haut blass und lustlos. Aurelia waren diese Anzeichen nicht unbekannt. Ihre Enkelin war verliebt.
»Vielleicht ist er für immer fortgegangen«, sagte sie halb zu sich selbst, halb zu dem jungen, langsam neben ihr schlendernden Mann. Und je mehr sie über die Bianchi-Familie erfuhr, desto klarer wurde ihr, dass er vielleicht niemals zurückkehren würde.
Als sie nach links abbogen, um nicht in der Sackgasse zu enden, berührte sie sacht die zarten Blüten der weiß, lachs- und rosarot blühenden Oleanderbüsche. Zum hundertsten Mal fragte sie sich, ob es fair sei, dass die Kinder für die Sünden ihrer Vorväter büßen mussten. Was sollte dieser ganze Unsinn hinsichtlich der »Rache«? Marco Timpone war vermutlich ein lieber Kerl, eine Randfigur in der ganzen Geschichte. Er wohnte bei seiner Großmutter Sara, der Tochter des berüchtigten Giorgio, auf halber Höhe des Hügels. Aber natürlich war selbst das bezeichnend. Die Bianchis waren offensichtlich wohlhabender als ihre Rivalen. Immerhin gehörte Elena das Haus auf der Spitze des Hügels.
Aurelia blickte hinunter. Niemand hatte Marco Timpone in letzter Zeit gesehen. Er war fortgegangen. Es hieß, er sei ein Vagabund wie einst sein Urgroßvater und lasse sich nirgendwo festbinden.
Pah!, dachte Aurelia. Vermutlich empfindet er ebenso viel für Cari wie sie für ihn. Die beiden sollten einfach durchbrennen und ihre Familien sich selbst überlassen. Sie hätte dafür Verständnis.
Cari war fassungslos. Sie hatte gemeint, gegenseitige Zuneigung könne nicht an einem geringfügigen Familienzwist zerbrechen. »Wir beide sind mit den Bianchis allein über Enrico verbunden«, hatte sie zu Aurelia gesagt, nachdem sie die ganze Familiengeschichte gehört hatte. »Du und Elena, ihr seid nur Freundinnen. Ihr seid nicht einmal verwandt. Also weshalb sollte der Familienstreit etwas mit Marco und mir zu tun haben?«
Nein, sie begriff es nicht. Tatsache war, dass Aurelia sich mit der Familie Bianchi verbunden hatte, indem sie bei Enrico eingezogen war. Von diesem Zeitpunkt an galten sie als miteinander verwandt. Zudem ging es hier nicht allein um einen Familienzwist. Es handelte sich nun einmal um eine lang anhaltende, blutige Auseinandersetzung.
Die Sonne stach mit ganzer Kraft vom Himmel, und Aurelia schob ihren Sonnenhut zurecht. Stärker als allen anderen Familienmitgliedern war ihr bewusst, wie wichtig es war, den richtigen Mann nicht einfach gehen zu lassen. Enrico war der Richtige, dessen war sie sich sicher, auch wenn ihre Beziehung derzeit so unterkühlt war, als seien sie Fremde. Getrennte Betten, getrennte Zimmer, getrennte Aktivitäten. Es war ihre Schuld. Was ist die Liebe ohne das Vertrauen? Das Vertrauen ist ein Teil dessen, was zwei Menschen zusammenschweißt. Ein starkes Band, das jedoch leicht reißen kann.
Stefano, der neben ihr ging, hatte einen uneinheitlichen Schritt. Dann und wann zupfte er ein Blatt von einem Jasminstrauch und schnipste es auf den Weg. Er fuchtelte herum, krempelte seine aufgerollten Ärmel noch weiter hoch, kratzte sich am Kopf und zupfte an seinem offenen Hemdkragen. Diese Unruhe war ihr neu. Vermutlich wollte er ihr etwas sagen.
»Die Pflanzen sollten zurückgeschnitten werden. Ich muss mich darum kümmern«, murmelte sie vor sich hin. Der Oleander war dicht und buschig. Die dunklen Blätter des Jasmins standen im Kontrast zu den sternförmigen Blüten, deren süßer Duft geradezu unangenehm stark die Luft erfüllte.
»Das erledige ich.« Stefano hakte sich bei ihr unter. »Was für eine gute Idee von dir, dieses Labyrinth zu pflanzen! Es war der Wunsch meiner Mutter. Ihr besonderer Ehrgeiz, nicht wahr?«
»Vermutlich.«
»Ich weiß es.«
Aurelia musste an die Pläne denken, die sie vor vielen Jahren in dem Arbeitszimmer gefunden hatte. Darunter auch die von Catarinas ordentlicher Hand sorgsam angefertigten Zeichnungen und Anweisungen. Und der kleine Junge, der sich den zugeklebten Briefumschlag geschnappt hatte und damit in sein Zimmer gerannt war, damit sie es um Himmels willen nicht bemerkte.
»Nun?« Sie wollte ihn nicht drängen. Stefano war immer ein Junge gewesen, der die Dinge seinem Rhythmus gemäß erledigte und erst redete, wenn er dazu bereit war.
»Sie hat ein Gedicht hinterlassen«, sagte er jetzt. »Ich habe es kurz vor der Anlage des Labyrinths gelesen. Zwar habe ich den Sinn nicht entschlüsseln können, aber ich habe es aufgehoben.«
»Wirklich?« Aurelias Interesse war geweckt. Zweifellos
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