Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
lebenserfahrene, einfühlsame Künstlerin. Sie hatte ihre Arbeiten Edward gegenüber heruntergespielt, doch Cari würde ihm auf jeden Fall ihr Atelier und einige ihrer Werke zeigen. Vielleicht würde ihr die Anerkennung eines Mannes wie Edward neuen Auftrieb geben, ihre Arbeit wieder aufzunehmen? Obwohl ihre Großmutter bereits fünfundsiebzig war, schien sie ohne ihre Malerei nicht glücklich zu sein. Ihr Blick wirkte verloren, was Cari beunruhigte.
»Ich komme mit.« Cari nahm ihren Arm. Seit dem Winter hatte sie teil am Leben in Ligurien. Mit Aurelias Hilfe hatte sie schon etwas Italienisch gelernt und konnte sich mittlerweile recht gut – wenn auch nur sehr langsam – unterhalten, sofern ihr Gegenüber nicht zu schnell sprach. Zudem hatte sie eine weitere Kundin gewonnen – eine Freundin von Carmella, die auch in Weiß heiraten wollte –, einen verlässlichen Lieferanten für ihren Bedarf gefunden und mit der Herstellung von Kleidern begonnen, wunderschönen Ballkleidern aus Satin und Seide, Organza und Chiffon, die sie für Hochzeiten, Bälle und andere Anlässe verleihen wollte. Doch weil das Guthaben, das Tasmin ihr hinterlassen hatte, mehr und mehr zusammenschmolz, unterrichtete Cari zudem die beiden halbwüchsigen Töchter von Lorenza und Louis in Englisch. Diese Lehrtätigkeit wollte sie noch ausbauen. Wenn ihre Wohnung in Brighton endlich verkauft wäre, würde sie sich hier eine Wohnung zulegen und die Geschäfte von dort aus führen, um Enrico und Aurelia wieder mehr Privatsphäre zu garantieren.
In ihrem Zimmer zog Cari sich aus, legte sich aufs Bett und nahm Tasmins Tagebuch zur Hand. Sie hatte seit Monaten nicht mehr darin gelesen. Der Inhalt schmerzte sie zu sehr, doch aus irgendeinem Grund, vielleicht weil Edward in der Nähe war, drängte es sie weiterzulesen. Einerseits wünschte sie sich, dass die Enthüllungen nicht enden mochten, andererseits fürchtete sie sich davor. Wie wenn man verliebt ist, dachte sie. Es gab sowohl die Freude als auch den Schmerz.
Aber es gab schon ganze Tage, an denen sie nicht an Marco dachte. Sie wollte sich nicht in dem verlieren, was hätte sein können, sondern sie bemühte sich, sich auf Tasmins Tagebuch zu konzentrieren. Doch kaum hatte Marco sich erneut in ihre Gedanken geschmuggelt, hielt er sie lauernd besetzt und ließ sich nur im Schlaf daraus vertreiben. Und er geisterte viel zu häufig auch durch ihre Träume.
Und was ist, wenn der Schwarze Mann kommt?
Dann laufe ich davon!
Sie konnte nicht ständig vor Marco davonlaufen. Ob er nun der Schwarze Mann war oder der Mann ihrer Träume. Ihre Beine waren nicht immer schnell genug.
Sie blätterte die Seiten mit Tasmins steiler Handschrift durch.
Es hätte anders sein können , las sie. Es wäre anders gewesen, wenn ich mich seinem Wunsch gebeugt hätte. Dann hätte er sich um uns gekümmert. Um sie gekümmert. Aber ich konnte es nicht ertragen, dass sie ihn so lieben und vielleicht verlieren würde. Was wäre gewesen, wenn er uns verlassen hätte? Oder vielleicht sogar gestorben wäre?
Tut mir leid, Edward. Ich habe dich nicht genug geliebt, aber ich wollte dich nicht zu sehr lieben .
Wie bitte?
Ein von der Veranda ertönender Schrei, gefolgt von herzhaftem Gelächter (Enricos?), unterbrach Cari in ihrer Lektüre. Es folgte eine Stimme. Eine junge, männliche, italienische Stimme …
Sie stand auf, schlüpfte in ihren Bademantel und blickte hinaus in die Dunkelheit. Abgesehen von dem mit Laternen und Windlichtern beleuchteten Tisch konnte sie nur die dort versammelten Männer erkennen. Sie schienen sich alle gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Wer …?
Zögernd schlich sie die Treppe hinunter und näherte sich lautlos der halb geöffneten Terrassentür. Kaum hatte sie sie ein wenig weiter geöffnet, sah sie …
»Edward.« In der Dunkelheit hatte sein Gesicht einen seltsamen Glanz. Als blicke man in einen Spiegel und würde etwas unübersehbar Einleuchtendes erkennen …
Dann hätte er sich um uns gekümmert. Um sie gekümmert.
»Edward!«
Allmählich veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und seine Überraschung wich Verstehen.
»Cari, bist du es?« Die Tür wurde weiter aufgestoßen, und Enrico stand vor ihr, überlebensgroß, das lachende Gesicht in zahllosen kleinen Falten. »Sieh mal, wer hier ist!«
Wer mochte das sein? Cari trat auf die Veranda.
»Stefano.« Enrico schob den großen jungen Mann auf sie zu.
Endlich wurde sie sich ihrer nackten Beine und leichten Bekleidung
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