Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
sie gekommen waren.
Aurelia zuckte die Achseln. Vielleicht hat er ja Recht, dachte sie, und es ist tatsächlich ein Rätsel. Falls es sich als solches entpuppt, werde ich es wohl kaum deuten können. Vermutlich wird niemand jemals den verborgenen Sinn erraten.
»Und was bedeutet der Schatten ?«
»Ach je.« Sie schnupperte an einer Jasminblüte. »Schatten gibt es überall.« Das wusste Stefano so gut wie jeder andere.
Schweigend kehrten sie in das Herz des Labyrinths zurück. Trotz der Hitze schossen die Goldfische zwischen den dahintreibenden Wasserlinsen und der auf der Oberfläche schwebenden gelben Seerose durch den Teich.
Aurelia beugte sich so weit vor, bis sie sich und ihren Schatten im Wasser sehen konnte. Der unvergleichliche Duft des Jasmins erfüllte die Luft.
»Duftet sonndurchglühtes Gold« , murmelte sie.
K
apitel 39
Im nächsten Frühling
Mitternacht war vorüber, die Luft kühlte ab, und die Familie saß in gelöster Stimmung auf der Terrasse. Eine in alle Himmelsrichtungen verstreute Familie, bemerkte Cari, die sich dennoch zu der Feier zusammengefunden hatte. Übermorgen würde Carmella heiraten, in dem Kleid, das Cari für sie geschneidert hatte. Der Empfang sollte im Park von La Sirena stattfinden. Dann würde Cari den kompletten Bianchi-Clan kennenlernen, einschließlich Stefano, von dem sie bereits so viel gehört hatte – Enricos Sohn, Marcos Feind.
Die ersten Gäste waren bereits eingetroffen – die meisten übernachteten in Elenas Villa auf dem Hügel. Einige von ihnen waren nun hier versammelt und stießen mit Prosecco auf Carmellas und Gianmarios Zukunft an.
Ein Gast hatte sich bereits in La Sirena einquartiert. »Alles in Ordnung?« Cari beugte sich über den Tisch und drückte Edwards Hand. Sie hatte ihn spontan eingeladen. Wenn sie auch keine Familie und keinen Geliebten in England hatte, so hatte sie zumindest einen Freund, einen langjährigen Freund, der – seit sie sich erinnern konnte – mit ihrer Familie eng verbunden war.
»Wie könnte es anders sein?« Edward lehnte sich zurück und blickte in den Himmel.
Cari machte es ihm nach. Sie erinnerte sich an diesen Moment, als sie zum ersten Mal unter dem italienischen Nachthimmel gesessen hatte, und dachte daran, was sie in der Nacht mit Marco empfunden hatte, dort oben auf dem Hügel. An dem Platz, an dem er sein Restaurant bauen wollte. Was mochte aus dem Projekt geworden sein? Es war sein großer Traum gewesen.
Sie betrachtete den vollen Mond und den Sternenhimmel und lächelte dann Edward an. Er trug ein Hemd mit offenem Kragen, ein bequemes Leinenjackett und sein typisches zerknittertes Lächeln.
»Ich weiß genau, warum du hier bleiben wolltest«, sagte er.
»Noch etwas Wein, Edward?« Enrico gab den charmanten Gastgeber. Keine Spur mehr von nicht enden wollendem grüblerischem Schweigen, das die vergangenen Monate eines frostigen italienischen Winters geprägt hatte.
Cari war sehr erstaunt gewesen über die herbe Winterzeit, in der jede Entwicklung zum Stillstand gekommen war; zugleich hatte sie genossen, dass die Menschen eine klare Vorstellung von den Jahreszeiten hatten und offenbar genau wussten, wann die Oliven geerntet und die Terrassenmöbel für den Winter ins Haus gebracht werden mussten, ebenso wie sie spürten, wann die Blumenkästen bepflanzt werden konnten und das Leben allmählich wieder draußen stattfinden konnte. Vorbei waren die quälenden Sonaten, die Enrico auf seinem über alles geliebten Flügel spielte, die höflichen Mahlzeiten, die unendlich viel Sprengstoff in sich getragen hatten, sowie das angestrengte, unpersönliche Lächeln. Mit dem Erwachen des Frühlings schien auch in Enrico etwas erwacht zu sein. Vielleicht ein Bewusstsein dafür, was er gegebenenfalls verlieren würde? Die Hoffnung, einen Neuanfang zu wagen?
»Ich gehe hinein. Bitte entschuldigt mich«, sagte Aurelia. Cari sah Aurelia die Müdigkeit an. Gemeinsam mit Elena hatte ihre Großmutter die Hochzeitsvorbereitungen organisiert und gelenkt. Morgen würden die Männer das Zelt errichten, und alle würden sie vor der Tür stehen: die Caterer, die Gärtner mit den Blumen, die Männer, die die Tische aufbauen mussten. Es würde eine Menge Trubel geben!
»Natürlich.« Edward stand auf und verbeugte sich. Cari hatte gewusst, dass er und Aurelia sich gut verstehen würden. Er war ein erfahrener, einfühlsamer Kunsthändler, dessen Leben sich im Kreis von Künstlern und ihren Werken abspielte. Und sie war eine
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