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Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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der Inhalt des mysteriösen Umschlags. Sie hatte sich buchstabengetreu an Catarinas Anweisungen gehalten. Die drei gepflanzten kleinen Spiralen, deren äußerer Pfad jeweils zum Haus, zum Dorfweg sowie zum Meer führte. Mittelpunkt der drei Spiralen war ein Fleckchen Blau – der Weiher und die kleine Oase der Ruhe – mit der Bank aus Olivenholz, der sich seit Generationen im Besitz der Bianchi-Familie befand.
    Stefano zog ein Stück Papier aus seiner Brusttasche.
    Aurelia starrte ihn sprachlos an.
    »Das ist nicht das Original«, erklärte er und wedelte mit dem Blatt. »Es ist nur eine Kopie, die ich bei mir trage.«
    Immer? Ihre Schritte erzeugten ein sanftes Geräusch, die einzigen Laute, abgesehen vom Summen der Insekten und der von fern hörbar hereinströmenden Flut. Aurelia drückte seinen Arm. Dieses Stück Papier war ihm offenbar sehr wichtig, und sie fühlte sich geschmeichelt, dass er sich endlich entschlossen hatte, es ihr zu zeigen.
    »Mein Schicksal« , las Stefano, »das Herz des Labyrinths.« Stille.
    Sie waren am Ende des gewundenen Weges angekommen. Aurelia stützte sich auf das Tor. Weiter drüben verlief sowohl die Küstenstraße nach Lerici als auch der Weg zu dem Dorf, das ihren Namen trug. Sie hörte das Geräusch eines nahenden Autos. Man konnte es nicht sehen. Aurelius, fiel ihr plötzlich ein. Hatte man das Dorf nach eben jenem Aurelius Timpone benannt, oder war es umgekehrt gewesen? Schon immer hatte sie sich von diesem Ort stark angezogen gefühlt – was eigentlich etwas eigenartig war, da sie dort doch nach wie vor als eine von den stranieri galt. Selbst Enrico war sozusagen ein Fremder. Sie gehörten weder zu den Bianchis noch zu den Timpones und waren ebenso wenig Ligurier. Zwei Eindringlinge. Nur Stefano gehörte hierher.
    Als Stefano zu lesen begann, schloss sie die Augen …
    Auf der Reise zur Entdeckung,
    Wenn du suchst nach deinem Weg,
    Zur Spirale in Spirale,
    Wo gewund’nes Holz vergraut;
    Dort im Schatten jenes Dunkels,
    Wo Geheimes wird erzählt,
    Schläft die stumme edle Frau,
    Duftet sonndurchglühtes Gold.
    »Wie schön!« Aurelia öffnete die Augen. »Hat deine Mutter diese Zeilen verfasst?«
    »Es ist zumindest ihre Handschrift.«
    »Und es geht in dem Gedicht um das Labyrinth.« Aurelia stand die Freude ins Gesicht geschrieben. Es erschien ihr wie eine Bestätigung dafür, dass es richtig gewesen war, Catarinas Wunsch zu erfüllen.
    Aber Stefano sah sie skeptisch an. »Weshalb Entdeckung ?«, fragte er. »Ich habe so oft darüber nachgedacht, was sie damit gemeint haben könnte.«
    Aurelia sah ihm über die Schulter. »Reise zur Entdeckung …«
    »Klingt beinahe wie ein Rätsel, nicht wahr?« Seine Stimme nahm einen drängenden Ton an. »Wonach hat sie gesucht? Oder wollte sie, dass jemand anders danach sucht?«
    Aurelia überlegte. »Ein Labyrinth hat etwas mit Entdeckung zu tun«, sagte sie und warf einen Blick zurück auf den Pfad, den sie vorhin entlanggegangen waren und der sich wie eine Schlange und meist außer Sicht durch das Labyrinth wand. »Eine Reise ins Innere, zum Kern der Dinge und anschließend der Versuch, seinen Weg hinaus zu finden. Vielleicht hat sie das damit gemeint.«
    »Ja, das passt.« Er las die Zeilen erneut. »Wenn du suchst nach deinem Weg …«
    »Es könnte dabei aber ebenso gut um Selbstfindung gehen.« Aurelia erinnerte sich an Hesters Worte, als sie ihr vom Symbolismus der keltischen Triskele erzählt hatte. Die Triskele galt als Symbol der Pilgerreise; ihre drei Krümmungen stellten die drei Formen weiblicher Spiritualität und Kreativität dar – Leben, Kunst und Liebe. Vielleicht war es gar kein Zufall, dass Catarina hier in Ligurien das Labyrinth hatte anlegen wollen. Der keltische Symbolismus reichte weit zurück in die Vergangenheit, und Aurelius’ Gattin Lucia Bianchi war keltischer Herkunft gewesen, hatte Elena ihnen erzählt.
    Hatte Catarina auf diese Weise das Leben, die Kunst und die Liebe entdeckt? Sie besaß Enricos Zuneigung; hatte einem Kind das Leben geschenkt – und zwar diesem jungen Mann, der jetzt neben ihr stand. Und hatte etwas Künstlerisches geschaffen, indem sie dieses Gedicht verfasst hatte, sollte sie tatsächlich dessen Urheberin sein. Dennoch wurde sie grausam aus dem Leben gerissen – wie ihr Bruder, der zur See fahrende Schmuggler, war auch sie sehr jung gestorben.
    »Doch was ist mit Spirale in Spirale gemeint?« Erneut nahm Stefano sie am Arm, und gemeinsam gingen sie denselben Weg zurück, den

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