Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
bearbeitete. Dorrie wischte sonst nie um diese Tageszeit Staub, und daran erkannte Aurelia, dass sie nervös und verunsichert war.
Aurelia baute sich vor Dorrie auf und reckte das Kinn. Sie war nicht dumm und kannte die Rollenverteilung nur zu gut. Dorrie war die Angestellte ihrer Familie. Sie, Aurelia, hatte in diesem Fall das Sagen. Mehr oder weniger. »War das meine Großmutter?«, erkundigte sie sich – allerdings mit leiser Stimme, da das Arbeitszimmer ihres Vaters nicht allzu weit entfernt lag.
Ein Stirnrunzeln zerfurchte Dorries rundes Gesicht. »Ja, aber …«
»Ich möchte zu ihr«, sagte Aurelia bestimmt. Einen Augenblick fürchtete sie, Dorrie würde Einwände erheben, an Vaters Zimmertür hämmern oder Mutter von ihrer Näharbeit im vorderen Salon wegholen. »Schließlich ist heute mein Geburtstag«, fügte sie scharf hinzu.
Sie sah einen Funken Mitgefühl in Dorries Augen aufglimmen. »Aber nur eine Viertelstunde, denk dran«, erwiderte diese und deutete auf den Garten hinter dem Haus. »Und ich hab keinen von euch gesehen.«
Das ließ sich Aurelia nicht zweimal sagen. Sie rannte durch die Küche und zur Hintertür hinaus und knöpfte sich die Jacke im Laufen zu.
Draußen senkte sich die Dämmerung auf Bäume und Büsche herab und ließ ihre Umrisse verschwimmen. Aurelia spähte in die Düsternis, traute sich jedoch nicht so recht zu rufen. Sie steuerte auf den Teich zu.
Wie sie vermutet hatte, saß ihre Großmutter auf der feuchten Holzbank am Rand des Teiches. Langsam trat Aurelia näher. Ihre Großmutter sah nachdenklich aus. Fast traurig. Als sie jedoch Aurelia bemerkte, erhellte ein liebevolles Lächeln ihre wettergegerbten Züge.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling.« Sie erhob sich, um Aurelia zu umarmen. Aurelia stellte fest, dass sie müder wirkte als damals in Cornwall. Für Aurelia war ihre Großmutter immer über alle Probleme und Zwänge des Erwachsenenlebens erhaben gewesen, die ihren Vater verärgerten und ihre Mutter beunruhigten. Doch nun schien auch Gramma Hester ein unausgesprochener Kummer zu bedrücken. Und durch ihr faszinierendes gelocktes Haar zogen sich eindeutig mehr graue Strähnen.
»Gramma!« Sie roch nach ihrem Pastetenteig, warm und ein bisschen würzig. Aurelia klammerte sich an sie und wünschte sich, Gramma würde sie nie mehr loslassen.
»Ich habe dir ein Geburtstagsgeschenk mitgebracht. Etwas ganz Besonderes.« Hester zog Aurelia neben sich auf die Bank und reichte ihr ein kleines Päckchen.
Mit zitternden Fingern riss Aurelia es auf. Etwas ganz Besonderes … Eine kleine schwarze Schachtel kam zum Vorschein. Als sie behutsam den Deckel abnahm, entfuhr ihr ein Laut des Entzückens. Auf einem schwarzen Samtkissen umschlängelte eine Silberkette einen herrlichen, alten silbernen Anhänger mit einem glatt polierten Stein, um den herum seltsame kreisförmige Muster eingraviert waren. Er war wunderschön.
Hester zog einige Streichhölzer unter ihrem dicken schwarzen Schultertuch hervor und zündete eines an. Die Flamme mit der Hand schützend, hielt sie das Streichholz so nahe an den rotgoldenen Stein, dass er in den Farben der untergehenden Sonne aufleuchtete.
»Da ist was drin«, sagte Aurelia und deutete darauf. »Da ist was in dem Stein.«
»Das ist nur ein Insekt.« Hester lächelte. »Eine kleine Libelle.«
Für Aurelia sah das Insekt aus, als könnte es im nächsten Augenblick davonfliegen – wenn nur jemand den Stein zerbrechen würde, in dem es gefangen war. »Wie ist es da hineingelangt?«, fragte sie schaudernd.
Hester nahm den Anhänger aus der Schachtel und polierte ihn sorgfältig mit einem Zipfel ihres Tuchs. »Bernstein ist ein Harz«, erklärte sie. »Zunächst ist er eine zähe Masse.«
»Wie bei den Bäumen?« Aurelia kuschelte sich eng an die Großmutter und spürte durch das Schultertuch hindurch die Wärme ihres Körpers. Sie liebte die Geschichten ihrer Großmutter.
»Wie bei den Bäumen. Richtig.« Hester hielt den Stein in die Höhe. »Manchmal bleiben Insekten oder sogar kleine Tiere in dem goldenen Saft hängen. Sie werden darin perfekt konserviert, weißt du.«
Aurelia betrachtete die Libelle noch einmal eingehend. Was hatte sie gedacht – falls Insekten überhaupt denken konnten –, als sie sich nicht mehr rühren konnte und ihr klar wurde, dass sie in dem Harz ertrinken würde?
»Im Laufe von Millionen Jahren«, fuhr Hester fort und zog ihr Tuch fester um sich, »verhärtet das Harz und wird zu Bernstein.«
»Und
Weitere Kostenlose Bücher