Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
die Libelle …«, begann Aurelia. Das Insekt musste demnach auch Millionen Jahre alt sein.
»Ist eingeschlossen.« Hester klang nachdenklich. »Ein in Bernstein eingeschlossenes Insekt. Ja.«
Ein in Bernstein eingeschlossenes Insekt. Wollte ihr die Großmutter damit etwas sagen?
Aurelia griff nach dem Anhänger. Schwer und warm lag er in ihrer Hand. Hester zündete ein zweites Streichholz an, in dessen flackerndem Licht der Bernstein Aurelia zuzuzwinkern schien. Wie eine Schlange wand sich die Gravur darum herum. Aurelia schaute genauer hin. Oder sogar wie drei Schlangen.
»Es ist ein keltisches Symbol, eine dreifache Spirale oder Triskele«, erklärte die Großmutter, als die Flamme erloschen war. »Jeder Pfad führt aus einer Mitte heraus«, sie fuhr mit dem Streichholz die Spirale entlang, »und in eine hinein. Triskele, weil es drei Spiralen sind.« Sie deutete darauf. »Und genau in der Mitte … ein goldenes Auge.«
Aurelia runzelte die Stirn. »Was bedeutet das?« Denn es musste etwas bedeuten. Da schon der Bernstein so wichtig war, wusste sie instinktiv, dass es sich hier nicht einfach nur um ein hübsches Muster handelte.
»Triskelen gibt es schon seit mindestens dreitausend Jahren«, fuhr Gramma Hester fort. »Kannst du dir das vorstellen, Liebes?«
Das konnte Aurelia nicht.
»Die Kelten glaubten, dass sich das Leben in ewig währenden Kreisläufen bewegt. Sie unterschieden drei Abschnitte – Geburt, Tod und Wiedergeburt.« Ihre Stimme war leise und monoton, und sie schien Aurelias Anwesenheit vergessen zu haben. »Körper, Geist und Seele.«
Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, dachte Aurelia, aber sie sprach es nicht aus. »Keltisches Blut«, hatte Vater gesagt. Waren die Kelten die Heiden, von denen sie in der Sonntagsschule gehört hatte? War Großmutter eine von ihnen? Hoffentlich nicht. Und doch … Was ihre Großmutter da sagte, klang äußerst seltsam. Behutsam berührte Aurelia den Anhänger. Zu ihren Füßen kroch eine Schnecke durchs feuchte Gras und hinterließ eine glänzende Schleimspur.
»Und die Triade der Frauen.« Hester starrte in den Teich, schien jedoch etwas ganz anderes zu sehen. Etwas sehr Wichtiges. Vielleicht aus ihrer Vergangenheit.
Was war eine Triade? Aurelia blickte ebenfalls in den Teich, als könne sie dort eine Antwort finden, aber in der zunehmenden Dunkelheit waren nur die Triebe der Sumpfdotterblumen zu erkennen und die Umrisse der golden und schwarz gemusterten Fische, die in den trüben Tiefen des Teiches zwischen den Wasserpflanzen hin und her flitzten.
»Jungfrau, Mutter und Greisin.« Hester lachte leise. »Und du weißt bestimmt, was auf mich zutrifft, Liebling.«
Aurelia lächelte. Ihre Großmutter war doch keine Greisin. Greisinnen waren die alten Frauen, die sich am Ende oft als Hexen entpuppten. Gramma Hester war keine Hexe. Aurelia wollte nicht, dass sie eine Hexe war. Es schauderte sie erneut.
»Die Spirale hat mit einer Reise zu tun«, erzählte die Großmutter weiter und legte Aurelia ein Ende des Tuchs um die Schultern.
Wie eine Reise nach Cornwall?, fragte sich Aurelia.
»Der Anhänger wurde stets von Frau zu Frau weitergegeben«, fuhr Hester fort und blickte Aurelia ernst an.
»Von Frau zu Frau?« Mit einem Mal fühlte sich Aurelia sehr erwachsen. Als würde eine Menge von ihr erwartet. Sie setzte sich gerade hin und erhob sich dabei ein wenig von der feuchten Bank. Der Abendnebel verlieh dem Garten etwas Zauberisches, durch die Feuchtigkeit roch er prickelnd und muffig zugleich, und seine Konturen wirkten anders als tagsüber, richtiggehend unheimlich. Die Blumen und Büsche waren nur noch Schemen. Alles war möglich. Beinahe erwartete Aurelia, jeden Augenblick ein Fabelwesen aus dem Gebüsch hervorbrechen zu sehen. Sollte sich eines zeigen, hätte es wahrscheinlich ihre Großmutter mitgebracht.
Gramma Hester umschloss Aurelias kalte Hand mit ihrer warmen. »Und deswegen musst du gut darauf aufpassen, Liebes. Und ihn später an deine Tochter weitergeben.«
»Meine Tochter?« Jetzt war Aurelia gänzlich verwirrt. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob Vater in Bezug auf Gramma Hester nicht Recht haben könnte. War sie nicht vielleicht doch ein bisschen verrückt?
Ihre Großmutter nickte. »Wenn es so weit ist.«
Etwas störte Aurelia. »Aber warum hast du ihn dann nicht Mutter gegeben?«, fragte sie.
Großmutters Gesicht wurde traurig. »Ich habe das getan, worum er mich gebeten hat«, war alles, was sie sagte. »Eines Tages, Aurelia
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