Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
fühlte, wie er sich anspannte. Verdammt. Warum, oh, warum nur …?
Abrupt ließ er sie los. »Es ist nichts gestohlen worden«, sagte er steif. »Aber du musst dich natürlich noch vergewissern.«
Wie konnte er so sicher sein? Und falls er Recht hatte … Sie dachte an den seltsamen Schatten im Garten, das Geräusch aus dem Labyrinth … Warum war jemand hergekommen und in ihr Heim eingebrochen? Wer waren diese Menschen? Und wonach suchten sie?
K
apitel 4
Cari hatte eine unruhige Nacht verbracht. Am Morgen riss die Türglocke sie unsanft aus dem Schlaf, pflügte wie ein Bulldozer durch ihre Träume und machte jegliche Erinnerung daran zunichte. Sie sah auf den Wecker. Neun Uhr fünfzehn. Wer würde sie an einem Sonntag um diese Tageszeit besuchen wollen? Ihre Mutter? Wohl kaum. Dan? Schon möglich. Cari schlüpfte in den Bademantel und trottete den Flur entlang. Nie hat man seine Ruhe, dachte sie, wirklich nie.
Sie öffnete die Tür. Draußen standen zwei Polizisten in Uniform. Wenn sie doch immer noch im Bett liegen und träumen würde! Aber es war helllichter Tag, das Licht grell und unbarmherzig. Und sie wusste genau, was ihr die beiden mitteilen würden, noch ehe sie die Wohnung betreten hatten.
Aurelia starrte aus dem breiten Fenster ihres Ateliers. Sie konnte sich glücklich schätzen. Von hier aus hatte sie einen herrlichen Ausblick über den Park und das Labyrinth – deutlich waren die drei spiralförmigen Hecken zu erkennen –, auf die blühenden Mandelbäume und die Pinienreihe. Dahinter lag das Meer, das in der Abenddämmerung diesig wirkte. Es war Aurelias liebste Tageszeit. Nicht Tag, nicht Nacht, sondern von beidem etwas. Diese Stunde besaß einen ganz besonderen Zauber, sie schien losgelöst von jeglicher Realität. Man konnte Dinge sehen – und hören –, die sich bei Tageslicht nicht immer klar darstellten. Enrico war der Meinung, sie arbeite zu hart. Aber sie wollte weitermalen.
Sie wandte sich ihren Aquarellfarben zu, die sich in Regalen entlang der kahlen Atelierwand stapelten. Alfonzo hatte sie schon länger um weitere Bilder für seine Galerie gebeten, war sich aber auch gleichzeitig im Klaren darüber, dass Aurelia die Gemälde, die ihr besonders wichtig waren, wie einen Schatz hütete. Sie musste mit ihrer Arbeit fortfahren. Morgen war ihr Geburtstag, doch sie fühlte sich nicht wirklich alt. Und es gab immer noch so viel zu malen, so viel zu tun. Außerdem galt es Antworten zu finden. Und Frieden …
Sie betrachtete ihre Leinwände. Meeresansichten, Bilder von Hügeln, Stillleben und Naturstudien, von einer makellosen, im Gras liegenden Zitrone bis hin zu einem grau belaubten, knorrigen Olivenbaum, Pastellzeichnungen und Aquarelle, ein Querschnitt ihrer Arbeit aus fünfundfünfzig Jahren – eine lange Karriere, wenn man so wollte. Für Aurelia war das Malen eher ein inneres Bedürfnis. Ein Lebensweg, dem sie zwangsläufig folgen musste.
Da war es also. Das Bild, nach dem sie unbewusst gesucht hatte. Es trug den Titel »Drei Spiralen«. Drei Pfade, die sich durch einen Wald schlängelten und das Muster jener drei Spiralen widerspiegelten, die ihr so vertraut waren. Dazu eine Nymphe, ein Satyr und ein wunderlicher Ritter auf einem weißen Ross. Ein Bild, das so ganz anders war als die meisten ihrer Arbeiten. Und das definitiv nicht zum Verkauf stand. Genau dieses Gemälde hatte damals an der Wand des Reisebüros in Lucca Enricos Aufmerksamkeit erregt. Sie hatte es als späte Antwort auf das Geschenk ihrer Großmutter gemalt. An einem anderen Abend in der Dämmerung, an einem anderen Geburtstag, ihrem zehnten …
Als das Geräusch des Türklopfers durchs Haus hallte, drückte sich Aurelia gegen die Wand. Vater war in seinem Arbeitszimmer, wo er unter keinen Umständen gestört werden durfte (als ob das jemand gewollt hätte … Aurelia presste die Hand vor den Mund und unterdrückte das Kichern, das urplötzlich in ihr aufstieg; als ob es jemand wagen würde …)
Sie hörte leises Gemurmel. »Ich kann nicht, wirklich, ich kann nicht …« Es war Dorrie.
»Du musst nur dafür sorgen, dass sie zur Hintertür hinausgeht.« Eine Frauenstimme. War das nicht …?
»Dafür kann ich meine Stellung nun wirklich nicht aufs Spiel setzen.«
Das Gemurmel wurde dringlicher. Aurelia hörte, wie jemand die Haustür schloss.
Sie wartete noch eine Weile, dann flitzte sie leise die Treppe hinunter.
In der Halle stieß sie auf Dorrie, die gerade die große Standuhr mit dem Staubwedel
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