Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
…«
Er? Doch Aurelia wusste, was sie meinte – eines Tages würde sie es verstehen. Es würde zu nichts führen, wenn sie jetzt mit dem Fuß aufstampfte und trotzig darauf bestand, es zu erfahren. Ihre Großmutter hatte aus Gründen, die nur sie etwas angingen, beschlossen, eine Generation zu überspringen. Sie vertraute Aurelia ein besonderes Geschenk an, und Aurelia musste sich dessen würdig erweisen und ihr zeigen, dass sie kein Kind mehr war. Keinesfalls durfte sie ihre Großmutter enttäuschen.
»Ich passe gut darauf auf«, versprach sie. »Darf ich ihn auch tragen?«
»Lieber nicht.« Hester warf einen Blick zum Haus hinüber. »Bewahre ihn gut auf, sehr gut, und trage ihn erst, wenn du frei bist.«
Aurelia blinzelte. Frei?
Bedächtig legte Hester die Hände auf Aurelias Schultern. »Denn du wirst frei sein«, sagte sie. »Das verspreche ich dir. Aber du musst darum kämpfen, Aurelia. Du bist eine Frau. Du musst kämpfen.«
Vom Haus her war ein Geräusch zu hören. Sie blickten auf. Dorrie stand an der Hintertür. Aurelia konnte sie im Nebelschleier nur erkennen, weil sich ihr Umriss im Lichtschein aus der Küche abzeichnete. Dorrie trocknete sich gerade die Hände an einem Tuch ab. »Aurelia?« Sie klang ängstlich. »Wo bist du?«
»Zeit zu gehen.« Gramma Hester drückte ihr zum Abschied die Hand.
»Kommst du nicht mit ins Haus?« Wo würde sie um diese Zeit noch hingehen? Und warum wollte sie das Haus nicht betreten?
»Ich kann nicht.« Sie erhob sich. »Aber ich habe einen Platz, wo ich bleiben kann, also mach dir keine Sorgen.«
Aurelia stiegen die Tränen in die Augen. »Werde ich dich wiedersehen?«, fragte sie.
»Das ist lieb von dir, mein Schatz, aber natürlich.« Hester lächelte. »Ich habe nicht vor, diese Welt schon so bald zu verlassen.«
Es war ein Trost, aber es traf nicht genau das, was Aurelia gemeint hatte.
Hester umarmte sie ein letztes Mal. »Es ist eine schlechte Zeit, Liebes. Darum wollte ich dir den Anhänger jetzt schon geben. Nichts ist mehr sicher. Es gibt Menschen, die Unruhe schüren. Du musst auf dich aufpassen.«
Aurelia grub ihr Gesicht in das Schultertuch. Sie hatte Gerüchte über Unruhen gehört. Sie lauerten in den schäbigen Ecken von Vaters Arbeitszimmer, wenn er Radio hörte oder mit einem seiner Kollegen aus der Bank Whisky trank. Sie hatte sie sogar vom Krieg sprechen hören – obwohl sie oft sagten, dass so etwas nicht wieder geschehen werde, denn wie sei das möglich nach dem letzten Mal? Nein. Sie war nicht dumm, sie wusste, wovon ihre Großmutter sprach.
Unruhen, Veränderungen … Ihr schwirrte der Kopf. Aber Dorrie rief immer noch nach ihr, und so löste sie sich aus der Umarmung und gab ihrer Großmutter einen Abschiedskuss auf die Wange. Sie hätte schwören können, dass sie feucht war – vielleicht vom Nebel? »Bis bald, Gramma«, sagte sie fest, als ob sie es allein dadurch heraufbeschwören könnte. »Und vielen Dank für den Anhänger.«
Gramma Hester nickte. Erneut starrte sie ins Wasser. »Denk daran, dass du tun kannst, was du willst, Aurelia!«, sagte sie. »Sobald du frei bist.«
Wer ist schon frei?, dachte Aurelia nun, während sie ihr Gemälde betrachtete. War Enrico frei, Enrico mit all seiner Traurigkeit und den Erinnerungen? War sie denn frei mit ihrer Schuld und der Leere in ihrem Herzen, der Lücke, die wahrscheinlich nie mehr gefüllt werden konnte? War Catarina frei? Enrico hatte ihr erzählt, dass sie ein schweres Leben gehabt hatte. Aber über ihren Tod sprach er nie – als ob ihm dies zu große Schmerzen bereiten würde.
Und nun hatte sie, Aurelia, auch noch morgen Geburtstag. Die Jahre vergingen wie im Flug. Sie sollte eine Entscheidung treffen – ehe es zu spät war. Einige Dinge sollten nicht ungelöst bleiben. Es gab einen Grund, warum ihre Vergangenheit so stark in ihr Bewusstsein, in ihre Gegenwart drängte, entschlossen, anerkannt und noch einmal gedanklich erlebt zu werden. Sie musste die Vergangenheit in Ordnung bringen, bevor es zu spät war.
K
apitel 5
Cari saß in der vordersten Bank der kleinen Kapelle zwischen Dan und Edward. Die beiden waren ihr in der letzten Woche eine wichtige Stütze gewesen – seit dem entsetzlichen Augenblick, als die Polizei vor ihrer Tür gestanden hatte. »Gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen könnten, damit Sie jetzt nicht allein sind?« Dan, oh, ja, Gott sei Dank gab es Dan.
Während sie gehorsam den von ihm zubereiteten süßen Tee mit einem Schuss Brandy
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