Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
sie sich nach ein bisschen mehr Sonne sehnen?« Sie reckte die Arme. »Man hat sie in sogenannten Sardinenpalästen geräuchert, Liebling«, sagte sie. »Kannst du dir das vorstellen?«
Aurelia dachte an den Buckingham-Palast und die Wachablösung. Sardinen? Sie musste kichern. »Was fangen die Fischer jetzt?«
»Krabben, Hummer …« Hester schien das Interesse an der Geschichte verloren zu haben.
Aurelia glaubte nicht, dass ihr so etwas auf Toast schmecken würde, aber sie sprach es nicht aus, weil sie nicht erneut von Hester ausgelacht werden wollte. Sie wollte das Gefühl haben, dass auch sie sich auskannte, dass sie und Hester sich auf einer gemeinsamen Ebene trafen. Bei den meisten Erwachsenen spürte sie das nicht. Aber ihre Großmutter war anders. Sie war etwas Besonderes. Aurelia wollte Gramma Hester für sich haben und es wie ein Geheimnis hüten.
Aber Gramma Hester sollte keine Geheimnisse mit Vater haben. Sie sah die Blicke, die sie sich manchmal zuwarfen, ganz flüchtig, ein geheimes Einverständnis … worüber nur?
Und ebenso wenig wollte sie, dass ihre Großmutter mit ihrer Mutter Geheimnisse hatte. Geheimnisse, das hatte Aurelia herausgefunden, machten fast immer jemanden traurig. Und da ihre Mutter schon traurig war, konnten Geheimnisse dies noch verschlimmern. Davor fürchtete sich Aurelia. Es gab Tage, an denen die Augen ihrer Mutter trüb und verletzt wirkten und sie sich ins Bett legte, während Vater unruhig durchs Haus tigerte und – wie Hester es manchmal ausdrückte – so aussah, als sei mit ihm nicht gut Kirschen essen. An solchen Tagen versuchte Aurelia ihm aus dem Weg zu gehen und wollte auch von Geheimnissen nichts wissen. Sie wünschte sich nur, dass es ihrer Mutter besser ginge – und zwar bald. Dass sie wieder kräftiger werden, lächeln und Aurelia »mein Liebling« nennen würde. Aurelia war sich ganz sicher, dass sie dies früher getan hatte, denn es haftete in ihrem Gedächtnis wie eine reale Erinnerung, etwas, was wirklich geschehen war. Außerdem hätte sie sich das doch nicht ausdenken können, oder?
Hester schlug die Augen auf. »Verflixt und zugenäht!«, rief sie aus.
Aurelia musste kichern. Dann bemerkte sie den Gesichtsausdruck ihrer Großmutter. »Was ist denn, Gramma?«
»Komm schnell, Liebes!« Hester sprang auf, strich die türkisfarbene Bluse und den kanariengelben Rock glatt und streckte ihr die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. »Steh auf!«
»Was ist denn, Gramma?« Gemeinsam sammelten sie die Reste des Picknicks ein und verstauten sie wieder im Korb.
Aurelia folgte ihr den Hügel hinauf, vorbei an den grauen und weißen Häusern, die, wie Großmutter ihr erzählt hatte, aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stammten, auf jeden Fall sehr alt waren, viel älter als Gramma Hester.
Hester wirbelte herum, warf ihr Haar zurück und schenkte Aurelia ein spitzbübisches Grinsen. »Ich hab doch glatt vergessen, ihnen eine Nachricht zu hinterlassen.«
Nie mehr Ferien in Cornwall?
Draußen schien die Sonne, aber über Aurelias Wangen strömten Tränen. Sie saßen in Vaters kostbarem Morris Cowley und waren auf dem Rückweg nach Addleton.
Die Mutter drehte sich zu ihr um und drückte ihr die Hand. Aurelia zuckte zusammen. Sie war es nicht gewohnt, von ihrer Mutter berührt zu werden, obwohl sie einmal … bestimmt …
»Jetzt ermutige sie nicht auch noch, Mary!«, zischte der Vater. »Sonst dreht sie demnächst bei jeder Gelegenheit den Wasserhahn auf!« Er trat heftig aufs Gaspedal, als wolle er seine Aussage damit unterstreichen. Der Wagen machte einen Ruck, gehorchte aber.
Die Hand der Mutter verharrte unschlüssig in der Luft.
Aurelia nahm all ihren Mut zusammen. »Mutter«, sagte sie laut und deutlich. »Werden wir Gramma Hester wiedersehen?
Mary warf ihrem Mann einen Blick zu. »Natürlich, Kleines«, sagte sie. »Weil …«
»Nur über meine Leiche!« Aurelias Vater starrte geradeaus auf die Straße, die behandschuhten Hände fest ums Lenkrad geklammert, der Rücken kerzengerade, die Arme verkrampft. »Es reicht, Mary, hast du mich verstanden? Nie wieder.«
Die Hand der Mutter zitterte. Als Aurelia dies sah, hätte sie am liebsten nach der weichen weißen Hand gegriffen und sie gedrückt. Irgendwie wollte sie alles wiedergutmachen. Aber sie wusste, dass es das Falsche wäre. Es würde ihn nur noch mehr verärgern.
Also verhielt sie sich ruhig und blickte nur mitfühlend auf den Hinterkopf ihrer Mutter. Das blonde Haar war im Nacken zu einer
Weitere Kostenlose Bücher