Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
geschmeidigen Rolle frisiert, die von einem Haarnetz gehalten wurde. Aurelias Mutter sah immer hübsch aus. Heute Nachmittag trug sie ein Tageskleid in einem hellen Grünton, mit breiten Schultern und eng anliegender Taille. Ihre mit Strasssteinen besetzten Ohrringe funkelten im Sonnenlicht, während Aurelia sie von der Rückbank des Morris aus hilflos betrachtete. Sie glitzern und scheinen dennoch nicht wirklich zu sein, dachte Aurelia, als würden sie ihren Glanz nur vortäuschen. Ihre Mutter saß ruhig da, aber Aurelia spürte die Anspannung, die immer unterschwellig lauerte. Sie hatte Unrecht gehabt, das erkannte sie jetzt. Wenn ihre Mutter etwas sagte, machte es die Sache keineswegs besser. Im Gegenteil.
»Wir hätten niemals zurückkehren sollen«, murmelte ihr Vater. »Nicht nach …«
»Schscht!«
Nach was? Aurelia wartete auf den unweigerlich folgenden Wutausbruch, weil ihre Mutter gewagt hatte, ihm den Mund zu verbieten. Aber obwohl ihr Vater die nächste Kurve zu schnell nahm und den Morris beinahe in einen entgegenkommenden Pferdewagen katapultierte – das Pferd wieherte laut und stieg vor Schreck –, passierte nichts weiter. Warum? Was hatte er sagen wollen?
Aurelia runzelte die Stirn. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, als die schroffen Felsen und die Moorflächen Cornwalls in der Ferne verschwanden. In Vaters Augen schien etwas mit ihr nicht in Ordnung zu sein. So war es doch? Aber sie durfte nicht mehr weinen. Sie durfte wirklich nicht. Obwohl sie es kaum ertragen konnte. Sie würde es nicht ertragen, Gramma Hester nie mehr wiederzusehen.
Enrico hörte auf zu spielen.
»Das Abendessen ist fertig, meine Lieben«, sagte Elena sotto voce . Sie stand vor dem Sofa, die mit Ringen geschmückten Hände gefaltet.
Enrico beugte sich zu Aurelia hinab und berührte ihren Arm. »Hast du geträumt, cara ?«
Aurelia nickte. Sie nahm sowohl den würzigen Geruch seines Rasierwassers als auch die Düfte aus Elenas Backofen wahr. »Von der Vergangenheit.« Immer noch quälten sie dieselben Fragen. Es gab so vieles, was sie nicht verstand.
Später fuhren sie und Enrico durch das Dorf und über den lungomare , die Küstenstraße, entlang zu La Sirena zurück. Enrico öffnete das Tor, und sie ließen die Zypressen hinter sich, deren Spitzen sich im Nachtwind bewegten. Es war zwei Uhr morgens, das Haus lag schweigend im Dunkel. Was seltsam war, denn Enrico hatte doch …
»Ich habe das Licht im Flur angelassen«, sagte er.
Natürlich hatte er das. Natürlich. Und Stefano war nicht da. Enricos Sohn war seit ein, zwei Wochen auf Geschäftsreise in England. Aurelia dachte an das Geräusch im Labyrinth. Ihr Stolpern, der Schatten … Warum um alles in der Welt hatte sie nicht …?
»Bleib hier!« Enrico verhielt sich ruhig und souverän, ganz Herr der Lage. Nichts erinnerte mehr an den feinfühligen Pianisten, der die Welt der Musik in den Fingerspitzen trug und dessen Blick in die Ferne gerichtet war. Er zog sein Handy aus der Jackentasche, tippte eine Nummer ein und redete in schnellem Italienisch hinein. »Ich werde nachsehen«, wandte er sich an sie.
»Nein, Enrico.« Aurelia verspürte einen Anflug von Furcht – um sie beide.
Als er sie anblickte, wirkte er beinahe überrascht. »Bleib im Auto.« Er löste den Autoschlüssel von seinem Schlüsselbund und drückte ihn ihr in die Hand. Kühl schnitt er in ihre Handfläche. Glaubte er, dass sie vielleicht fliehen musste?
»Verriegle die Türen!«, sagte er. »Ich bin gleich zurück.«
Aurelia gehorchte automatisch. Früher, dachte sie, wäre ich ihm gefolgt und hätte es darauf ankommen lassen. Aber jetzt, mit fünfundsiebzig, war diese Zeit vorbei. Oder? »Nie im Leben«, murmelte sie, öffnete die Wagentür und stieg mühsam aus. »Enrico?« Vorsichtig schlich sie über die gepflasterte Auffahrt zur Vorderseite des Hauses.
Die schwere Holztür stand offen. In der Öffnung erschien eine Gestalt unter der purpurfarbenen Clematis. Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, aber sie fasste sich schnell. Wie dumm von ihr! Es war Enrico. Wie hatte sie ihn mit jemandem verwechseln können?
»Es ist jemand hier gewesen«, verkündete er. »Drinnen herrscht ein einziges Chaos.« Sein Gesicht wurde sanft. »Vor allem in deinem Zimmer, cara .«
Aurelia starrte ihn an. In ihrem Zimmer? Was besaß sie schon, das für einen Einbrecher von Interesse sein könnte?
»Mach dir keine Sorgen!« Er nahm sie in die Arme.
Aurelia zuckte zusammen und
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