Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
getrunken hatte, hämmerte es immerzu in ihrem Kopf: Sie ist tot, sie ist tot.
Es konnte nicht sein! Cari begann zu zittern und spürte Dans Hand tröstend auf ihrem Arm. Ich bin da, wollte er ihr damit sagen. Aber ihre Mutter war nicht mehr da, und genau das war der springende Punkt. Ihr Körper lag in dem Sarg, der bald hinter einem Vorhang verschwinden würde. Sie war sehr froh über Dans Beistand. Aber wenn man einen geliebten Menschen verlor, wurden die anderen Menschen im Leben bedeutungslos – zumindest eine Zeit lang. Ihre Mutter war nicht mehr da. Ihre Mutter hatte auf einer Party Ecstasy genommen und war in den frühen Morgenstunden zusammengebrochen – allein, unbemerkt, ohne Hilfe. O Gott. Cari suchte nach einem Taschentuch. Sie durfte sich gar nicht ausmalen, wie es gewesen sein könnte. Das war einfach zu viel.
Vorn sprach der Kaplan ein Gebet. Aber Tasmin und Gebete hatten so wenig miteinander zu tun, dass Cari beinahe lachen musste. Tasmin hätte ihm empfohlen, sich lieber dem Leben zuzuwenden, als sich mit den Toten zu beschäftigen, und ihn voller Verachtung angesehen. Was hat Gott je für mich getan?, hätte sie gefragt. Was hat Gott je für irgendeine von uns armen Seelen getan, die wir einsam und allein in dieser erbarmungslosen Welt ums Überleben kämpfen?
Sie erhoben sich zum Lied »Love Divine« . Cari hörte am Klang von Edwards weichem Bariton, wie elend er sich fühlte, und in diesem Moment verschmolz ihrer beider Kummer zu einem breiten Strom der Trauer. Tasmins Chef, dem die Galerie gehörte, in der sie gearbeitet hatte, war siebenundzwanzig Jahre älter als sie und dennoch ihr engster Freund gewesen, der einzige Mensch, an den sie sich wandte, wenn sie nicht weiterwusste. Er hätte mehr für sie getan, hätte Tasmin es zugelassen. Aber sie war immer wild entschlossen gewesen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Normalerweise lehnte sie jede Hilfe ab.
Die weißen Lilien verströmten einen überwältigenden, nahezu Übelkeit erregenden Duft. Caris Stimme versagte mitten im Vers. Wieder drückte ihr Dan tröstend den Arm. In dem eleganten schwarzen Anzug mit der schwarzen Krawatte wirkte er ziemlich beeindruckend. Richtig smart. »Der Typ ist ziemlich smart«, hatte Tasmin bei ihrer ersten Begegnung geäußert. Im ersten Augenblick hatte Cari gedacht, sie meine damit, er hat Köpfchen . Aber dann hatte ihre Mutter den Satz beendet, »… für einen Studenten.«
Und da wurde ihr bewusst, dass es nicht als Kompliment gemeint war. »Wir können nicht alle abgehobene Künstlernaturen sein«, hatte Cari ihr entgegengeschleudert – es war einer ihrer seltenen Streitereien gewesen. »Schließlich ist überhaupt nichts Schlimmes daran, smart und verlässlich zu sein.« Und eine Familie zu haben, hatte sie im Stillen hinzugefügt. Eine echte Familie, echte Wurzeln.
Doch Tasmin hatte so undurchschaubar reagiert wie immer. »Das weiß ich doch, Schätzchen«, hatte sie mit einem Lächeln geantwortet. »Das weiß ich doch.« Auf diese Weise hatte sie scheinbar nachgegeben, ohne das Gesagte zurückzunehmen. Hatte besänftigt, ohne zu trösten. Und nichts preisgegeben. Das ist die Geschichte meiner Mutter, dachte Cari.
Cari erinnerte sich, wie sie als Kind jeden Tag mit der Angst im Nacken zur Schule gegangen war, ihre Mutter werde am Nachmittag nicht da sein, um sie abzuholen. Sie hatte düstere Visionen gehabt von einer unbekümmert vor sich hin summenden Tasmin, die beim Überqueren der Straße von einem Auto überfahren worden war; einerseits war sie voller Leben, andererseits nicht ganz im Hier und Jetzt. Tasmin kam zwar immer, aber meist zu spät, stets heiter und gelassen, ganz die weltgewandte Künstlerin. »Warum machst du dir so viele Sorgen, Schätzchen? Sei nicht so dumm!« Einmal jedoch – nur ein einziges Mal – hatte sie bei der Arbeit die Zeit vergessen (wie sie Cari später erzählte) und war nach Ende des Unterrichts nicht erschienen. Jemand von der Schule musste sie im Büro anrufen. Könnten Sie bitte kommen und Ihre Tochter abholen, Miss Banks? Und Cari hatte sich in die Zimmerecke gekauert, wie wild mit Buntstiften gemalt und so getan, als habe sie nicht gehört, wie die Sekretärin das Miss betont hatte, und als sei es ihr gleichgültig.
Es gab so viele Bemerkungen, an die sie sich erinnerte …
»Trag auf meiner Beerdigung bloß kein Schwarz«, hatte Tasmin einst in scherzhaftem Ton gesagt. »Zieh etwas leuchtend Gelbes an – ich glaube, ein bisschen Sonnenschein
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