Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Hier war er der King .
Kaum hatte Cari die Tragetasche neben einem Tisch abgesetzt, fiel diese in sich zusammen und neigte sich leicht nach rechts, als wolle sie darauf hinweisen, dass sie einen eigenen Willen habe. Cari stieß sacht mit dem Fuß dagegen. Benimm dich! Zwei Besucher standen am anderen Ende des Raumes und betrachteten ein abstraktes Exponat, auf dem sich mit etwas Mühe die in sich verschlungenen Körper zweier Frauen erkennen ließen, die um ihr Leben – oder den Tod, dachte Cari – kämpften. Bei solchen Gemälden musste man umdenken. Man durfte nicht erwarten, dass tatsächlich existente Dinge und Menschen darauf dargestellt sind. Edward hatte Cari schon öfter darauf hingewiesen. Nun, ihre Kunst – von der ihre Mutter oft gesagt hatte, sie lasse sich nicht als solche klassifizieren – war etwas Handfestes. Schließlich entwarf sie Kleider für echte Menschen. Daher war ihre Sichtweise nicht überraschend. Nach einem kurzen Blick auf die kurzärmelige fuchsienfarbige Bluse der Besucherin sowie deren schwarze Baumwollhose und den schweren Goldschmuck erkannte Cari, dass es sich bei dem Paar wohl um Käufer handelte – eine ganz andere Spezies als die Künstler. Der Mann war zwei Köpfe größer als die Frau. Er trug einen Anzug. Sein Gesicht war faltenlos und gebräunt, das Haar schmierig-glatt nach hinten gekämmt – nicht gerade typisch für Brighton. Vermutlich verheiratet. Wahrscheinlich Londoner auf einem Wochenendtrip.
Im selben Augenblick kam Edward über die Wendeltreppe aus dem Untergeschoss herauf.
Als er Cari sah, erhellte sich sein runzliges Gesicht, was sie sehr freute. Sie küsste seine trockenen, eingefallenen Wangen. Er war dünn, aber elegant. Mit dem beigefarbenen Leinenanzug und dem weißen Hemd passte er perfekt hierher.
»Cari! Wie geht es?« Automatisch trat er an den Kühlschrank.
»Ich möchte nichts trinken«, sagte Cari rasch, obwohl es nicht stimmte. Liebend gern hätte sie das kalte Glas in der Hand gehalten, um den aufsteigenden Dampf zu beobachten, wenn das Mineralwasser beim Hinzugießen den Eiswürfel traf, und gespürt, wie die Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrann. Aber das hätte sie zu sehr an ihre Mutter erinnert. Nein, das konnte sie im Augenblick nicht ertragen. Es war schon schlimm genug, dass sie Mutters Sachen ordnen musste.
Edward runzelte die Stirn und schob schweigend die Hände in die Hosentaschen.
»Ich war in Mums Wohnung«, erklärte sie ihm. »Es dauert alles länger, als ich gedacht habe.« Allerdings nicht wegen der Menge an Sachen. Sie vermied es, zu der Tragetasche zu schielen. Nein, wegen der Menge all dessen, was ihr im Kopf herumging.
Er nickte. »Schwierig, hm?«
»Es ist furchtbar. Überall stoße ich auf etwas Neues. Wie nach einem Verkehrsunfall oder Ähnlichem.«
Das war ein furchtbares Bild, und kaum sah sie Edwards Miene, bedauerte sie ihre Worte.
»Ich könnte dir zur Hand gehen«, sagte er entschlossen. »Du musst es nicht allein bewältigen.«
»Mein Erbe.« Cari ließ den Blick über das Gemälde an der weißen Wand hinter Edward wandern. Ein abstraktes Bild in Rot, geschickt ausgeleuchtet. Sie wusste, dass Edward stundenlang daran gearbeitet hatte, um alle Exponate ins rechte Licht zu rücken. Gewiss hatte er verschiedenste Hängungen ausprobiert und dabei seine Mitarbeiter (das heißt, Tasmin) mit seinem Perfektionismus zur Weißglut gebracht. Plötzlich überkam sie das Verlangen, lauthals zu lachen. Dieser ganze Aufwand für ein rotes Quadrat! Edward würde sich über den kommunistischen Symbolismus ereifern, aber hallo!, wie Tasmin, kaum dass sie die Galerie verlassen hatte, zu sagen pflegte: »Schätzchen, Künstler sind ein einziges Stück Scheiße.«
Dennoch …
Cari war klar, dass Edward weder wusste, was er sagen, noch, wie er es sagen sollte. Sie merkte, dass sie eigentlich gar keine Ahnung hatte, was in ihm vorging. Da sie selbst so sehr mit ihrem Schmerz befasst war, vermochte sie den Verlust, den er erlitten hatte, kaum einzuschätzen.
»Vermisst du sie?«, fragte sie ihn.
Er wirkte verlegen. Als er den Blick rasch abwandte, erkannte sie, dass er seine Unsicherheit überspielte und vielleicht sogar Tränen zurückdrängte. »Ja …«
»Ich auch«, sagte sie und berührte seinen Arm. Wie sollte sie die Leere, den Abgrund, der sich sowohl vor ihr als auch in ihrem Innern auftat, beschreiben? Jeden Morgen erwachte sie traurig, und Abend für Abend legte sie sich zutiefst mutlos schlafen. Die meisten
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