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Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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tatsächlich – wer sonst, wenn nicht eine Verrückte, würde mit der Exfrau ihres Geliebten sprechen, während sie im Zentrum des Labyrinths saß, das sie zu Catarinas Gedächtnis gepflanzt hatte.
    Natürlich antwortete niemand. So gestört war sie nun auch wieder nicht. Doch sie hätte schwören können, eine kaum wahrnehmbare Berührung an ihrer Schulter zu spüren. Eine geöffnete Handfläche, eine Geste des Dankes. Sie wusste, dass sie sich nicht täuschte, und schloss die Augen. Nein, sie würde Enrico nichts davon erzählen. Weshalb sollte sie ihn mit etwas beunruhigen, was er ohnehin als eine Folge überspannter Phantasie abtun würde? Im Übrigen brauchte sie es ihm gar nicht zu erzählen. Es könnte genauso gut ihrer beider Geheimnis bleiben – ihres und Catarinas.
    Im Frühling 1979 hatte sie den Irrgarten zum ersten Mal gemalt. Mit anderen Augen und mit einem Gemüt, das sich der Kraft öffnete, die es zu besitzen schien. Warum auch nicht? Sie ließ sich nicht davon abbringen, dass Orte Schwingungen von Menschen und Ereignissen aufnehmen konnten, die einst dort gelebt beziehungsweise sich dort zugetragen hatten. Und der Triskele – so hatte sie sich jedenfalls an Gramma Hesters Worte erinnert – wohnte eine Kraft inne, die bis zu den Kelten zurückführte. Was hatte Gramma damals im Garten erzählt? War es nicht etwas über eine Reise der Frauen gewesen? Geburt, Tod und Wiedergeburt? Ein Schauer lief Aurelia den Rücken hinunter. Hatte sie diese Reise womöglich wiederholt, indem sie das Labyrinth gepflanzt hatte? In einem Labyrinth ging es um das Reisen und um Orientierungslosigkeit. Um Wegweiser, um Unterdrückung. Sie spürte die Aura des Geheimnisvollen ebenso deutlich wie den berauschenden Duft des Jasmins – als berge das Labyrinth ein ganz besonderes Geheimnis, das ihr jemand oder etwas zu vermitteln suchte. Sie fand nicht heraus, was es war, stellte es aber auch nicht in Frage. Es sollte wohl so sein.
    Enrico war überrascht gewesen. Er war an ihre Seestücke gewöhnt, und sie merkte deutlich, dass er mit ihrer neuen Manie wenig anzufangen vermochte – die Kohle- und Bleistiftskizzen, die sie überall im Haus herumliegen ließ, die verträumten Spaziergänge durch das Labyrinth in der Abenddämmerung, das Grau, die Schatten sowie die rosa und blauen Sonnenuntergänge – all die Aquarellfarbenmischungen, die ihre Suche nach der einen perfekten Schattierung begleiteten, um die richtige Stimmung einzufangen. Sie malte das Labyrinth und stellte eine unirdische Figur hinein, deren Umriss sich beinahe im Jasmin und den staubbedeckten Oleanderbüschen auflöste.
    Das Bild schenkte sie dem damals neunjährigen Stefano zu Weihnachten.
    Sie sah sein Gesicht wieder vor sich. Die Kontur seines Mundes – der Enricos Mund so ähnlich war, wenn er lachte. »Danke, Mama«, hatte er geflüstert.
    Das war das erste Mal, dass er sie so genannt hatte.
    Er hatte das Bild mit ernstem Blick betrachtet. Das ist nicht der Blick eines Kindes, dachte Aurelia.
    »Manchmal rede ich mit ihr«, hatte er gesagt.
    Demnach hatte Stefano sie gesehen.
    Im selben Augenblick hatte er sich umgedreht, war durchs Haus gerannt, ein Geschenk unter dem Arm, um damit zu spielen. Etwas Unkompliziertes – ein Spielzeugauto oder eine Spielzeugeisenbahn.
    Genauso sollte es sein, hatte Aurelia damals gedacht, Enricos Blick meidend. Nur ein verrücktes Weib würde einem Neunjährigen das Bild eines Labyrinths schenken. Wer sonst? Etwas Unkompliziertes. So sollte es eigentlich sein.
    Aurelia erinnerte sich nicht, wann Catarina – oder besser: die Person, die sie für Catarina gehalten hatte – aus dem Labyrinth verschwunden war. Die folgenden Jahre konzentrierte sich ihre Malerei erneut auf Seestücke, den Blick auf das in der Bucht gegenüberliegende Tellaro, dessen rosa Kirche gleich einem Finger in den Himmel wies; auf die felsigen Strände, die auf dem dunkeltürkis gefärbten Meer dahingleitenden Schiffe, im Wasser planschende Kinder, die Häuser, die vor der Kulisse der Olivenhaine verschachtelt neben dem winzigen Hafen aufragten.
    Schließlich war der Tag gekommen, an dem Elena Aurelias Bilder im Haus aufhängte und eine Party gab, zu der sie Alfonzo aus der Galerie in Tellaro eingeladen hatte. Bei der Gelegenheit hatte er sie, Aurelia, gefragt, ob er ihre Arbeiten in Kommission nehmen dürfe. Aurelia dachte, wie weit sie nun von Brighton und der winzigen Kunstgalerie in der Lower Esplanade entfernt war. Die Bilder verkauften sich

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