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Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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Richard gesehen. Trotz allem würde sie ihn immer mit diesem einzigartigen Bühnengeruch in Verbindung bringen …
    Juni 1946. Kaum hatte Richard die Bühne betreten, war Aurelia wie hypnotisiert. Sie griff an Ivy vorbei zum Opernglas.
    Sie waren für einen Tag mit der Dampflok nach Brighton gefahren – Aurelia, Ivy, Ivys Schwester Sonia und ihr Verlobter Johnnie. Es war einer der ersten warmen Tage des Jahres, an dem eine sanfte Brise verheißungsvoll Haar und Wangen liebkoste und sich der Himmel ungetrübt über ihnen wölbte. Das leise Zischen der Wellen, als die Gruppe über die Promenade von Brighton schlenderte, sich eine Weile auf das elegante Geländer stützte und über das weite Meer, den Strand in Richtung Westen zu den zwei prächtigen Landungsstegen blickte.
    Ein Tag, dachte Aurelia, an dem es einem möglich schien, alles abzuschütteln – den Krieg, die Verluste, die Bomben, die Zerstörung und all die Erschöpfung, die jeder spürte, nachdem die Euphorie des Sieges vorüber war. Ein unbeschwerter Tag, an dem man sich eine Fahrkarte kaufte und an dem Kiosk im edwardianischen Stil vorbei auf das große Holzdeck des Palace Pier trat, voller Hoffnung auf Frieden, Glück und Zufriedenheit und in der Gewissheit, dass eine neue Ära anbrechen würde.
    Erinnerungen an die Kriegsjahre – Ereignisse wie das nächtliche Dröhnen deutscher Kampfflugzeuge, die sie zuweilen noch zu hören glaubte; die Werft in London, nicht einmal zwanzig Meilen entfernt, die vor einem glasklaren Nachthimmel wie ein überdimensionaler Sonnenuntergang brannte; die auf dem Dorfplatz von Addleton deponierte Landmine, die sich als scharf entpuppt hatte und zur Sandgrube außerhalb des Dorfes transportiert werden musste. Bei ihrer Detonation gingen nur ein paar Fenster zu Bruch. Doch wie viel schlimmer hätte es enden können!, dachte Aurelia. Das Häuschen ihrer Großmutter in Port Isaac war nur noch ein Trümmerhaufen. Und Gramma Hester? Hatte sie sich beim Angriff darin aufgehalten? Vater hatte Erkundigungen eingeholt. Alle waren sich einig, dass sie umgekommen war. Krieg. So viel Schmerz. So große Verluste.
    Aurelia hatte nur wenige Ausflüge wie den nach Brighton unternommen. Mit achtzehn fühlte sie sich immer noch – so hatte sie einst ihrer Großmutter anvertraut – gefangen wie die Libelle im Bernstein. Bestens konserviert – doch wozu? Trotz des Krieges hatte sie die Schule beendet und war aufgeschlossen für alles, was sich ihr bieten würde. Aber was mochte das sein? Sie verbrachte ihre Zeit mit ihrer Mutter in einem abgedunkelten Zimmer, mied die feindseligen Blicke ihres Vaters, strolchte über die das Haus in Addleton umgebenden Felder, half Dorrie bei der Zubereitung der Mahlzeiten und übernahm Haushaltspflichten. Und träumte. Träumen war gefährlich, nicht wahr …?
    Hin und wieder traf sie sich mit Ivy. Sie gingen tanzen oder samstags ins Kino und stellten sich vor, ein Filmstar zu sein. Zuweilen wurde sie zu Cocktailpartys oder zu einem Abendessen eingeladen. Sie wusste, dass der Gastgeber Kontakte zum Schwarzmarkt unterhielt, wenn die Mahlzeit aufwändig war. Der Krieg war zwar vorbei, doch es herrschte keineswegs Normalität. Was hieß überhaupt »Normalität«? Konnte sich überhaupt irgendjemand daran erinnern? Würde es je wieder so werden wie zuvor?
    Ivy kicherte, als sich der spitze Absatz von Sonias neuen Schuhen in den Holzlatten des Piers verkeilte. Sie war so stolz auf ihre neue Errungenschaft: Schuhe mit fünf Zentimeter hohen Absätzen, sehr elegant verglichen mit den praktischen flachen Tretern, an die sie bisher gewöhnt waren. Johnnie half ihr, den Schuh zu befreien. Anschließend stellten sie sich alle an das Geländer und beobachteten erstaunt einen Mann, der ohne großes Aufheben von der Bank am höchsten Punkt des West Pier hinuntersprang und auf sie zukraulte.
    Aurelia wartete, wusste aber nicht, worauf. Sie wartete einfach. Als ob sie manchmal im Stillen darauf hoffte, einem fremden Ritter aus alter Zeit zu begegnen, der sie auf seinem Schimmel in die ewige Glückseligkeit entführen würde. Vielleicht verrückt, aber sicherlich sehr romantisch. Doch was wollte sie eigentlich wirklich? Aurelia wusste es nicht. Sie wusste lediglich, was sie nicht wollte.
    Sie wollte nicht weiterhin zu Hause leben. Außerdem wollte sie keinen dieser netten jungen Männer, die sie auf Tanzabenden und Abendeinladungen kennengelernt hatte. Sie waren zwar angenehm – höflich, rücksichtsvoll, gut gekleidet.

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