Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Vielleicht nahm er an, es würde alles zwischen uns ändern. Vielleicht meinte er, ich wäre bedürftig und verletzlich und er könne mein Beschützer werden … Vielleicht glaubte er, dadurch ließen sich sowohl seine wie auch meine Probleme lösen.
Vielleicht hätte ich mir einen Fremden suchen sollen .
Jemand, der ihr nicht fremd war. Der älter war. Mit dem sie sich um nichts in der Welt hätte einlassen dürfen …
Zornig schlug Cari das Tagebuch zu. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Noch nicht. Nicht jetzt. Kein Wunder, dass ihre Mutter nicht über ihre Vergangenheit hatte reden wollen. Offenbar empfand sie ihre Biografie als derart erbärmlich, dass sie niemandem davon zu erzählen gewagt hatte.
Wie anders sind doch die Geschichten, die Marcos Großmutter ihm von dem Dörfchen mit dem Olivenbaum und dem Brunnen auf der Piazza erzählt hat!, dachte sie verbittert. Marco … Ich werde an Marco denken, entschied sie. Und nicht an das Tagebuch meiner Mutter. Dazu fehlt mir im Moment die Kraft.
Dans plötzliches Erscheinen hatte Marco offenbar nicht beunruhigt. Hoffentlich würde er auch weiterhin zu Besuch kommen. Sie wollte nicht, dass er wegblieb …
Cari stand auf und tappte ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. So viele Fragen, so viel zum Grübeln! Dan und Marco, Tasmins Ausstellung. Und noch dazu das Tagebuch. Sie konnte es nicht einfach ignorieren. Wer war ihr Vater? Wer war ihre Familie? Und was wollte ihre Mutter verheimlichen? Fragen über Fragen, die Antworten verlangten.
K
apitel 16
»Du hast etwas auf dem Herzen.«
Sie hatten den ganzen Abend im Haus verbracht, zu zweit und doch allein. Aurelia war nicht wie üblich zum Labyrinth gehastet, um es in der Dämmerstunde zu malen, und Enrico hatte sich nicht an den Flügel gesetzt. Die meiste Zeit hatten sie sich angeschwiegen. Sie wusste nicht, wie sie ihn am besten fragen sollte, aber ihr war klar, dass sie es zumindest versuchen musste. Sie wollte nicht schon wieder mit Heimlichkeiten leben. Er sollte ihr gegenüber alles offenlegen, damit sie eine Entscheidung treffen konnte. Heimlichkeiten gehörten in ihre Vergangenheit, nicht in ihre Zukunft.
»Ja«, bekannte sie. Auch wenn es vielleicht immer noch Geheimnisse gab, unterschied sich das Leben an Enricos Seite völlig von der Ehe mit Richard. Sie registrierte Enricos Höflichkeit und Charme, ohne davon jemals weiche Knie zu bekommen. Was für eine Ironie, wenn man bedachte, dass Enricos Charme echt war, während sich bei Richard alles als künstlich, als reine Täuschung herausgestellt hatte! Das Neigen des Kopfes, der Handkuss, der tiefe Blick in die Augen, das Zurechtrücken des Stuhls, der Kniefall – nichts als leere Gesten. Sorgfältig einstudiert und ohne Bedeutung. Richard in einer seiner tragenden Rollen.
Sie mochte vielleicht nicht alles über Enrico wissen, aber bis jetzt hatte sie noch nie an ihm gezweifelt. Allerdings hatte sie sich auch nie in ihn verliebt (wie hätte sie sich denn nach den enttäuschenden Erfahrungen mit Richard jemals wieder so verwundbar machen können?), aber sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Sie hielt ihn für einen grundanständigen Mann und schätzte ihn als Liebhaber und als Freund. Schließlich war sie auch nur ein Mensch. Sie hatte die enge Beziehung zu einem Mann vermisst und deutlich die Leere in ihrem Herzen gespürt, die sich zwar zeitweise überdecken, aber offenbar durch nichts füllen ließ.
Daher war sie dankbar für die Begegnung mit Enrico gewesen. Er war ein intelligenter, freundlicher Mensch mit vielen Fähigkeiten. Ein Mann, der sie begehrte und gleichzeitig respektierte. Ihr war bewusst, welches Glück sie gehabt hatte, dass sie nach Richard eine zweite Chance bekommen hatte.
Aurelia nippte an ihrem Tee, nach wie vor ihr bevorzugtes Getränk zum Tagesausklang. Enrico und Elena erklärten sie deshalb für verrückt, brachte Tee doch angeblich die von den Italienern so hoch gepriesenen Verdauungssäfte durcheinander. Doch Aurelia hielt immer dagegen, dass Tee ihr helfe, innerlich Ruhe zu finden. Und in Italien war ohnehin kein Zeitpunkt für schwarzen Tee mit Milch vorgesehen. Es war eine typisch englische Sitte.
Damals, in dem Reisebüro in Lucca, hatten sie und Ruth regelmäßig Teepausen eingelegt. Diese englische Tradition war ihnen lieb und teuer. Bei Tee und Keksen hatten sie über Gott und die Welt geredet, auch über Aurelias immer enger werdende Beziehung zu Enrico. Aurelia musste unwillkürlich lächeln. Ruth,
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