Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
boshaft gewesen. Sie hatte ihre frischgebackene Schwiegertochter herablassend behandelt und vielsagend die Nase gerümpft. Sein Vater war ein Trinker (ob das wohl genetisch bedingt war?) und sein Bruder ein äußerst heimtückischer Kerl, der sie nicht nur bei der ersten Begegnung, sondern auch später bei jeder Gelegenheit um Geld angebettelt hatte. Kein Wunder, dass Richard seine Familie verleugnen wollte. Kein Wunder, dass er Aurelia hatte fernhalten wollen. Sie, Aurelia, hatte ihren Vater zwar auch gehasst, aber er hatte immerhin ihre Welt geteilt und ihre Verbindung hatte bis zu seinem Tod bestanden.
Aurelia schob den Gedanken an Hugh beiseite. Wie konnte der aufgeschlossene, liebenswerte, aufrichtige Richard aus einer derart heuchlerischen Familie stammen?, überlegte sie. Es war verständlich, dass er seine Eltern nicht zur Hochzeit eingeladen hatte. Natürlich hatte er sich ihrer geschämt … Wer hätte das nicht?
Wie naiv ich doch war!, wunderte sich Aurelia und schloss die Augen. Naiv gegenüber der Welt mit all ihren Richards.
»Verzeih mir!«, hatte er sie am Morgen gebeten, nachdem sie ihn mit Janey in seiner Garderobe überrascht hatte. »Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«
Sie hatte geschwiegen. So bitter und übermächtig waren der Schmerz und die Enttäuschung, dass sie all das überhaupt nicht fassen konnte.
»Ohne dich bin ich nichts«, hatte er gefleht. »Ich brauche dich. Hilf mir, mich zu bessern! Hilf mir, so zu werden, wie du es verdienst!«
In guten wie in schlechten Zeiten … Aurelia hatte ihm in die blauen, scheinbar hilflosen Kinderaugen geblickt. Der liebenswerte Richard. Er war gestrauchelt, doch sie konnte ihn wie der barmherzige Samariter wieder aufrichten. Es mangelte ihr nicht an Kraft. Sie trug sein Kind. In guten wie in schlechten Zeiten … Sie musste fortan an ihre Familie denken. An sich, an Richard, an ihr gemeinsames Kind.
»Schluss mit den Frauen. Ich schwöre es«, erklärte er.
Schluss mit den Frauen. Aurelia blickte durch die Terrassentüren hinaus in die Nacht, an Enrico vorbei, der mit der Lesebrille auf der Nase dasaß und Zeitung las. In guten wie in sehr, sehr schlechten Zeiten.
Cari hatte die Passage gefunden, auf die sie gespannt und voller Furcht gewartet hatte …
Dan hatte eigentlich bei ihr übernachten wollen, aber Cari hatte es abgelehnt. Sie wollte allein sein, Kakao trinken und in Tasmins Tagebuch lesen. Doch was sich ihr darbot, ließ ihr Inneres erstarren.
Ich weiß nicht, warum das geschehen ist … Doch, ich weiß es. Ich war einsam (eigentlich keine Entschuldigung) und habe vier Flaschen Barley-Wein getrunken.
Ich erinnere mich nicht, wie es dazu gekommen ist. Doch – ich weiß es. Ich habe auf ihn gewartet. Ich habe ihm erklärt, was ich wollte, nicht wahr? Ich habe ihn geküsst.
Es hätte nicht geschehen dürfen. O mein Gott, nein. Die Gründe brauche ich hier nicht zu nennen. Kann ich niemandem erzählen. Wie könnte ich auch?
Ich versuche mich zu erinnern. Ich spürte seine Lippen – fremd und trocken. Alte Lippen. Fest. Nicht vergleichbar mit Stevie M oder Tony, nicht einmal mit Nick – diese nassen Schmatzküsse von Jungs. Diese Lippen waren routiniert. O ja! Lippen, die Dutzende Male Frauen und Mädchen geschmeckt hatten. Lippen mit Erfahrung. Lippen, die flüsterten: »Wir sollten das nicht tun. Es ist nicht in Ordnung. Nein.«
Aber es schien ganz in Ordnung zu sein.
Ich zog mich ganz aus und stand splitternackt vor ihm – halb so alt wie er, mindestens. Die Tochterfigur. Trotz all seiner Ungezwungenheit und seines savoir faire sah er weg.
»Komm zu mir«, sagte ich.
»Was möchtest du?«
Wir lachten beide, als er das sagte – als wäre das nicht sonnenklar.
»Ich möchte, dass wir beide Sex haben«, erklärte ich ihm, absichtlich das Wort Liebe nicht aussprechend, das so oft vorgibt, alles annehmbar und akzeptabel erscheinen zu lassen. Aber das war weder akzeptabel noch angenehm. Nicht auf diese Weise.
Er unterbrach das Gespräch, trat nahe an mich heran und führte seine Hände langsam über meine Arme und Schultern.
»Ich bin mir sicher«, sagte ich, obwohl er mich nicht gefragt hatte. »Aber ich werde dir danach nichts …«
Er hielt inne.
»… versprechen.« Ich blickte ihm ins Gesicht, um sicherzugehen, dass er verstanden hatte. Ich wollte jede Regel außer Kraft setzen, jede Konvention in Frage stellen. Gegen jeden Zwang aufbegehren, die die Gesellschaft mir – uns – auferlegen wollte.
Er nickte.
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