Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
viktorianischen und edwardianischen Zeit und die breiten Boulevards, von denen schmale Gassen abzweigten. Die roten Busse und blau-weißen Taxis, die zahlreichen Autos sowie die Menschen jeglicher Hautfarbe und unterschiedlichsten Aussehens, bunt gekleidet, von schrill bis elegant, erschreckendem Gothic-Look bis hin zum Flower-Power-Outfit. Das kosmopolitische, lebendige Brighton – eine Stadt, in der Vielfalt gefeiert wurde und in der sich jeder zu Hause fühlen konnte. Sie atmete tief ein und nahm alles in sich auf. Im Westen konnte sie gerade noch die hohen Türme des grauen Uhrenturms auf dem Hügel sehen, aber zum Glück nicht das Churchill-Square-Einkaufszentrum – den Klecks am Horizont – Richtung Norden. Außerdem den Royal Pavilion mit seinen elfenbeinfarbenen, stark mit dem Nachthimmel kontrastierenden Kuppeln, der von Scheinwerfern angestrahlt wurde.
Cari war glücklich, dass sie im Zentrum wohnte. Zwar hatte Brighton mehr Straßenkriminalität, Drogendelikte und Gewalt als die Umgebung zu verzeichnen, aber es war lebendiger und verrückter, barg ein weitaus größeres künstlerisches Flair, war chaotisch und ungeheuer bunt.
Dan war plötzlich seltsam still.
Als sie sich umwandte, sah sie, dass er in Tasmins Tagebuch las. »He!«
Sie trat an ihn heran und riss es ihm aus der Hand.
»Aha, das ist also auch off-limits?« Dan stand auf und packte sie am Arm. »Wenn ein verfluchter Italiener hier rumspioniert, scheint das völlig in Ordnung zu sein, aber …«
»Er ist weder ein verfluchter Italiener, noch hat er rumspioniert!«, konterte Cari. Sie schüttelte ihn ab. »Und das hier ist meine Privatsache.«
»Mich hat das offenbar überhaupt nicht zu interessieren, was?« Wie ein kleiner Junge sah er sie an.
Sie merkte, dass sie ihn verletzt hatte. Nicht indem sie ihm das Tagebuch ihrer Mutter verweigert oder Marco eingeladen hatte. Würde Dan sich sicher fühlen, würde all das keine Rolle spielen. Bisher hatte er stets ihre Privatsphäre respektiert, doch auf einmal bedrängte er sie ständig. Und sie kannte den Grund, obgleich sie es noch nicht ausgesprochen hatte. Nicht einmal vor sich selbst. Sie zuckte die Schultern. »Nein. Niemanden.«
Dan setzte sich erneut an den Tisch, Cari nahm gegenüber Platz, das Tagebuch im Arm. Sie musste es ihm erklären. »Hör mal«, begann sie. »Nur weil ich nicht jede freie Minute meines Lebens mit dir verbringe, heißt das doch nicht, dass du mir gleichgültig bist.« Sie legte das Tagebuch auf den Schoß.
Dan ergriff ihre Hände. »Aber vielleicht bedeutet es, dass du mich nicht gern genug hast.«
War ihr dieser Gedanke nicht auch schon gekommen? Cari betrachtete seine großen Hände. Jetzt war die Gelegenheit, ganz offen mit ihm darüber zu reden. Ihm zu erklären, dass sie sich längst nicht mehr so sicher sei, dass sich etwas in ihr verändert habe und sie sich im Augenblick nicht im Klaren sei, wie es bei ihr weitergehen solle, sondern nur wisse, dass sie auf der Suche sei und Angst habe.
Sie wollte keine vorübergehende Beziehung. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie einen Lover wollte. Sie schätzte Dan sehr, sie hatten schöne Zeiten miteinander verlebt, doch jetzt hatte sie den Wunsch nach … Sie wusste selbst nicht so genau, wonach. Nur, dass es etwas anderes sein musste.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte sie.
»Cari …« Er verzog das Gesicht.
Ob sie noch mehr ertragen würde? Sie fühlte sich so furchtbar schuldig, verdammt noch mal. Dan hatte nichts falsch gemacht. Er hatte nicht verdient, verletzt zu werden. Er war ein guter, liebenswürdiger Mensch. Aber ihn hinzuhalten – falls es das war, was sie tat – war noch schlimmer. »Vielleicht sollten wir uns eine Zeitlang nicht sehen«, schlug sie vor. »Damit wir die Dinge mit Abstand betrachten können.«
»Dinge?« Seine Stimme klang trostlos.
»Der Tod meiner Mutter, mein Leben, uns …« Wie sollte sie es ausdrücken? Welche Worte sollte sie finden, ohne ihn zu verletzen? Es war unmöglich.
Diesmal zog Dan die Hände fort. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Dich hat es ziemlich erwischt, was?«
»Was? Mich erwischt?«
»Na ja, mit deinem verdammten Nachbarn, dem Makkaronifresser. Der hat es dir ja ganz schön angetan.«
»Hör auf damit, bitte!« Müde legte sie das Tagebuch zur Seite und erhob sich. Warum ging es bei Männern immer um Konkurrenz? Weshalb gelang es ihnen nicht, darüber hinaus zu denken?
»Cari.« Sie fürchtete einen Augenblick, er breche in
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