Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
ihre pragmatische, bodenständige Freundin. Vor allem Ruth hatte sie es zu verdanken, dass sie in Italien gelandet war. Ruth hatte sie gerettet, und Aurelia vermisste die Freundin schrecklich. Vor zehn Jahren war sie an Krebs gestorben, in England, wohin sie zurückgekehrt war, weil dort ihr Bruder wohnte, der einzige noch lebende Verwandte. Aurelia würde sie nie vergessen. Und noch weniger würde sie vergessen, wie sehr Ruth sie dabei unterstützt hatte, ihre Freiheit zu erlangen.
»Ich liebe ihn nicht«, hatte sie Ruth damals gestanden. »Wahrscheinlich werde ich ihn niemals lieben.«
»Liebe? Pah!«
Ihre Freundin lebte damals schon so lange in Italien, dass sie bereits wie eine Italienerin sprach. Genau wie Aurelia inzwischen auch.
Ruth stippte einen Keks in ihren heißen, starken Tee. »Was haben Frauen und Tiere schon von der Liebe?«
Ja, was haben wir von der Liebe? Aurelia dachte darüber nach. Die Liebe hatte ihr auf jeden Fall Leidenschaft geschenkt. Und diese Leidenschaft hatte länger angehalten, als sie sich eingestehen wollte – trotz Richards Seitensprüngen, trotz seiner Selbstsucht, trotz allem. Die Leidenschaft hatte ihr eine herrliche Euphorie verschafft – anfangs, als es nur sein Gesicht, seine Stimme, seine Berührungen gab und sie sich nahezu nach ihm verzehrte. Doch die Liebe war ein zweischneidiges Schwert, und damals war sie ständig den Tränen nahe gewesen. Aurelia betrachtete diese Zeit inzwischen als eine Phase der Schwäche, in der sie sich untergeordnet und damit zufriedengegeben hatte, Richards Leben zu leben, ohne sich auf die eigenen Bedürfnisse zu besinnen.
Ruth war ganz ihrer Meinung gewesen. »Ist es das wert?«, hatte sie eindringlich gefragt. »Möchtest du das wirklich noch einmal erleben?« Als Freundin hatte sie einen Großteil der Probleme mit Aurelia gemeinsam durchgestanden, hatte immer ein offenes Ohr oder eine Schulter zum Ausweinen für sie gehabt. Drohte Aurelias Energie zu erlahmen, war Ruth die treibende Kraft gewesen. Sie hatte Aurelia ermahnt, Widerstand zu leisten, wenn Richard ihren Willen brechen wollte, hatte sie ermutigt, in ihrer künstlerischen Arbeit Erfüllung und damit zu sich selbst zu finden, und hatte sie letzten Endes gedrängt, sich die Freiheit zu erkämpfen, indem sie ihn verließ.
»Nein.« Ganz sicher nicht. Warum also nicht die nächstbeste Gelegenheit beim Schopf packen und die Freundschaft und Sicherheit annehmen, die Enrico bot? Die Kameradschaft eines grundanständigen Mannes, der ebenfalls einen geliebten Menschen verloren hatte. Eines Mannes, der sie zum Lachen bringen konnte und ihr den Freiraum ließ, den sie brauchte, um sie selbst zu sein. Warum also nicht?
Nur dass es nicht ganz so komplikationslos gelaufen war, wie sie es sich erhofft hatte. Enrico – von dem sie sicher gewesen war, dass er Catarina immer noch liebte – wollte sie heiraten und konnte nicht verstehen, warum sie, Aurelia, so zurückhaltend reagierte. Manchmal verstand sie es ja selbst nicht. Nach dieser langen Trennungszeit hätte sie sich ohne weiteres von Richard scheiden lassen können. Aber die Vergangenheit glich einer Schlingpflanze, die alles überwucherte. Richard, Tasmin, Gefühle der Liebe und Schuld waren wie Fangarme, die sie umklammerten, bis sie sich nicht mehr rühren konnte. Sie war gefangen wie die Libelle, die im harten Bernstein des wundervollen keltischen Anhängers eingeschlossen war. Ihr Erbstück. Ihr Geheimnis. Und doch würde sie wahrscheinlich weder den Anhänger noch Tasmin je wieder zu Gesicht bekommen.
»Lass uns hinausgehen«, schlug Enrico vor und öffnete die Terrassentür. »Es ist so eine herrliche Nacht.«
Aurelia stand auf und folgte ihm. Die Luft war mild, ein milchig weißer Mond leuchtete am dunklen Firmament und tauchte alles in silbriges Licht: die glatte Wasseroberfläche des Pools, die Terrakottatöpfe auf der Terrasse, in denen Geranien, Lavendel und Hortensien blühten, das Kräuterbeet mit dem gezackten Rucola und dem glattblättrigen Basilikum, das in das von Enrico so heiß geliebte Pesto wandern würde. Aurelia warf einen Blick zurück auf das Haus. Die knorrigen Zweige des Feigenbaums wirkten wie die Tentakel eines Seeungeheuers; nackt und düster zeichneten sie sich vor der hellen Hauswand ab.
»Also, was ist?«, fragte er.
Sie konnte es nicht länger vor sich herschieben. »Luigi hat mich heute angesprochen«, sagte sie und ließ dabei die Hand sanft über das Geißblatt gleiten, das sich um ein
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