Das Erbe der Uraniden
als hätte sie sich gefaßt, sprang sie auf und ging zum Telefon.
Der kurze Weg gab ihr die Gewalt über sich wieder.
Violet biß gerade herzhaft in eine saftige Frucht, als ein lautes Surren sie mit offenem Munde aufhorchen ließ.
»Das Postflugzeug!« rief die Dienerin. Da war auch Violet schon hinausgeeilt. Die Maschine schoß eben über den Hof der Hazienda, ließ in geschicktem Wurf die Post in ein aufgespanntes Netz fallen und verschwand über dem Park. Der alte Majordomo ließ das Netz zu Boden und trug den Ledersack ins Haus. Während er den Inhalt umständlich sortierte, hatte Violet schon einen Brief mit ihrer Adresse erspäht. Mit schnellem Griff nahm sie ihn an sich, riß ihn im Weitergehen auf. Schon die Marke hatte ihr den Schreiber verraten.
Während sie langsam die Treppe hinaufstieg, überflog sie den Inhalt. War es der, war es das Treppensteigen? Als sie oben war, lag helle Röte auf ihren Zügen. Doch das Lachen ihrer Augen verschwand, als sie in das Zimmer trat und Hortense sah, die auf einem Diwan lag, das Gesicht in die Hände vergraben. Violet eilte zu ihr hin.
»Miß Hortense! Ich will, ich kann nicht länger schweigen – verzeihen Sie mir –, aber ich selbst leide, wenn ich immer wieder sehen muß, wie Sie unter diesem Verhältnis zu Robert Canning leiden. Ich kenne Ihre Gefühle für ihn nicht. Nur das eine weiß ich, sehe ich täglich, daß Sie niemals das wahre Glück an seiner Seite finden werden. Zur vollen Liebe gehört doch volles Vertrauen, und das…«
Hortense ließ die Hände sinken, starrte Violet mit zusammengezogenen Brauen an.
»Miß Violet!«
Der Ton, der Ausdruck ihres Gesichts… Violet wandte sich verlegen ab. Tränen rollten über ihre Wangen. Wie sie so dastand in ihrer rührenden Hilflosigkeit, glätteten sich Hortenses Züge. Sie sprang auf, legte den Arm um die Gefährtin.
»Nicht weinen, Kleines! Ich weiß wohl, Sie meinen es gut. Doch ich glaube, Sie sorgen sich unnötig. Es wird schon alles gut werden. Robert Canning wird heute noch kommen. Er hat uns viel zu erzählen von den großen Ereignissen in Europa, die er zum Teil mit eigenen Augen gesehen hat. Aber was ist das?«
Sie bückte sich zu Boden, hob den Brief auf, der Violets Hand entglitten war. Sie warf einen Blick darauf, gab ihn lächelnd zurück.
»Sieh da! Die kleine Violet spricht schon aus Erfahrung.«
Sie eilte Violet, die sich errötend zum Tisch flüchtete, nach.
»Erzählen Sie doch! Was schreibt unser gemeinsamer Freund Stamford? In Lahore ist er, wie ich ersah. Kommt er nicht bald mal wieder hierher?«
»Ach nein, Miß Hortense! Denken Sie doch, er schreibt, daß er eine große Reise vorhabe, von der er hoffe, gesund zurückzukehren.«
»Eine große Reise? Nun, ich dachte, größere Reisen als seine jetzigen…«
»Damit meint er sicher eine gefährliche Reise.«
»Ach! Was heißt heute gefährliche Reise? Die großen Luftkreuzer kennen keine Reisegefahren mehr.«
Van der Meulen trat in das Zimmer.
»Große Reise? Wer denkt an Reisen?«
»Ich, lieber Vater! Reisen möchte ich! Und recht bald. Die Welt ist wieder ruhig geworden. Violet hat mir so viel von ihrer englischen Heimat erzählt. Ich möchte mit ihr dorthin fliegen. Und am schönsten wäre es, Pa, du kämst mit uns… und du wirst es tun, wenn wir dich herzlich bitten.«
Van der Meulen zuckte die Achseln.
»Hm! Von mir aus. Was wird Canning dazu sagen?«
»Ah! Er rief vorhin an. Er ist zurück. Er wird bald kommen.«
»Das ist interessant, Hortense. Er kommt aus Europa. Zweifellos wird er uns Näheres über den Verlauf der Kämpfe, den Umfang der Verwüstungen berichten können. Ich hörte von meinem Korrespondenten, daß ein Lebensmittelmangel droht. Ich habe schon heute morgen große Ladungen nach Europa abgehen lassen. Doch ich denke, wir gehen in den Park. Die Sonne neigt sich schon, die schlimmste Hitze ist vorbei.«
»Geh nur voraus, Pa, wir kommen gleich nach.«
Kaum hatte van der Meulen den Raum verlassen, wandte sich Hortense mit unterdrückter Erregung an Violet.
»Robert Canning wird in Kürze hier sein. Ihr werdet ihm draußen begegnen. Ich bleibe hier. Sie… werden mich entschuldigen, die Schwüle, die Hitze des Tages, ich habe Kopfschmerzen und kann ihn unmöglich begrüßen.«
Einen Augenblick stand Violet überlegend. Dann glitt ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. »Ich glaube auch, es wird schon gut werden.«
Sie traf van der Meulen am Parktor, wo er die Straße nach Norden
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