Das Erbe der Uraniden
verlassen mußte, tauchte immer wieder die geliebte Gestalt Violets auf. Sie noch einmal sehen, noch einmal sprechen, war sein Herzenswunsch.
Und es traf sich gut. Die kurze Fahrt zum Mond, von der sie die Opfer der verunglückten Expedition nach London zurückbrachten, war als Probefahrt gedacht. Doch bevor ein neuer Flug unternommen wurde, wollte Gorm selbst nach Amerika fliegen. Die Nachricht von Coiba beunruhigte ihn. Die Reise nach dem Gran Chaco ließ sich damit leicht verbinden.
Der Besuch in Coiba! Gorms Befürchtungen erwiesen sich nur als zu gerechtfertigt… Er sah den Atombrand, die große Gefahr und fand kein Mittel, sie zu bannen. Erschüttert, entmutigt stand er auf dem verhängnisvollen Eiland.
Sidney Stamford wollte die Gefahr nicht für ganz so groß halten. Sein Glaube an Gorm ließ ihn nicht verzweifeln. Immer wieder versuchte er sich mit dem Gedanken zu trösten, daß dieser doch vielleicht einmal einen Weg finden würde, dies Unheil aus der Welt zu schaffen.
Violet… Er hielt sein Pferd an. Durch das Laubdach einer Sykomore, deren Äste bis zum Boden niederhingen, schimmerte es weiß.
Violet oder Hortense? Eine der beiden mußte es wohl sein. Er machte sein Pferd fest, sprang auf gut Glück über die Mauer, näherte sich vorsichtig dem Baum. Nichts regte sich. Behutsam bog er die Zweige auseinander und sah Violet, die in einer Hängematte eingeschlummert war.
Leise trat er auf sie zu, wollte sie wecken. Da übermannte ihn das Gefühl. Er beugte sich zu der Schlafenden hinab und küßte sie auf den Mund.
Das Mädchen richtete sich erschrocken auf, wollte einen Schrei ausstoßen, da schloß er ihr mit einem neuen Kuß den Mund.
»Ich bin’s, liebe kleine Violet!« flüsterte er, »Sidney Stamford.«
»Sidney!?« Ohne zu wissen, was sie tat, schlang sie ihre Arme um seinen Hals… hörte trunken vor Glück die Worte des geliebten Mannes.
Erst der Ruf »Violet!«, von fernher klingend, riß sie aus ihrem Rausch. Und als käme ihr jetzt erst zum Bewußtsein, was geschehen, wandte sie sich, von dunkler Röte übergossen, zur Seite. Tränen standen in ihren Augen.
»Liebe kleine Violet!« klang’s wieder in ihr Ohr. Sein Arm legte sich um ihre Schulter. Doch da riß sie sich los, lief wie gehetzt auf das Haus zu.
Langsam folgte ihr Stamford.
»Hallo, Doktor Stamford! Hallo!«
Er wandte sich um, sah Hortense auf sich zukommen. Schnell war er bei ihr, begrüßte sie mit herzlichem Händedruck.
»Wo kommen Sie her, Doktor? Wir glaubten Sie tief in Indien.«
»Es traf sich, daß ich mit einem Freund nach den Staaten fahren mußte. Nun, ich benutzte die Gelegenheit, meine Verwandten in Santa Marguerita zu besuchen.«
»Und erinnerten sich auch Ihrer alten Freunde hier. Das ist nett von Ihnen. Die kleine Patientin von damals wird sich freuen, den Freund Doktor wiederzusehen. Wir anderen, Violet und ich – mein Vater ist zur Zeit nicht hier –, natürlich ebenfalls. Doch wie kamen Sie in den Park? War das Tor auf?«
Stamford geriet in schwere Verlegenheit.
»Nein!« sagte er so harmlos wie möglich, »ich sprang über die Mauer, den Weg abzukürzen.«
»Ah! Dann müßten Sie eigentlich Violet begegnet sein. Haben Sie sie nicht gesehen?«
Einen Augenblick suchte Stamford nach Worten. Dann schob er den Gedanken an eine Ausflucht beiseite.
»Ja, Miß Hortense! Ich gestehe es, ich traf Violet.«
»Und…?« fragte Hortense mit verstecktem Lächeln.
»Ja… und dann… lief sie plötzlich fort.«
»Sie lief fort?« Hortense weidete sich an der Verlegenheit Stamfords. »Das finde ich merkwürdig, einen lieben Besuch so schlecht zu behandeln… Oder sollte sie Gründe haben? Ich sehe, mein lieber Doktor, Ihre Verlegenheit deutlich auf Ihrem Gesicht, nun, wir werden sehen. Doch jetzt erzählen Sie von Ihren Reisen. Sie werden manches Interessante gesehen, erlebt haben.«
Stamford, froh, auf ein anderes Thema zu kommen, erzählte in seiner frischen Weise von seinem indischen Aufenthalt, während sie auf das Haus zuschritten. Als sie es betraten, war es Stamford nicht ganz wohl ums Herz.
Violet! Wie würde sie…
Hortense mochte wohl seine Gedanken erraten haben. Sie ließ Stamford durch einen Diener in den Gartensaal geleiten, schickte dann Violet mit einem Auftrag dorthin.
Als sie dann eine Zeitlang später anklopfte, erscholl ihr ein doppelt froher Gruß entgegen. Sie konnte zwei Glücklichen die Hand schütteln.
*
An der Spitze des Waldes, der sich wie ein Keil in die Canningsche
Weitere Kostenlose Bücher