Das Erbe der Vryhh
der Trennung vom Zirkel nahezu unerträglich wurde. Hier halten sich keine Naish mehr auf. Und wenn ich länger so verweile, beginne ich gleich wirklich zu heulen. Sie stemmte sich in die Höhe und spürte, wie ihre überanstrengten Muskeln schmerzten. Ob sich Hyaroll überhaupt die Mühe machen wird, nach mir zu suchen? Und: Wer sollte ihm denn sagen, daß ich fort bin? Die Seltsamen werden bestimmt nichts verraten. Sie strich mit dem Fuß über den Boden, eine Geste des Respekts und der Zärtlichkeit. Möge Mutter Erde nicht nur ihnen ihren Segen schenken, sondern auch dem, was sie planen. Sie zog die Tür zu. Sie wies innen keinen Riegel auf, aber Amaiki schob den Gleitschlitten heran und legte einige Werkzeuge vor den Zugang, so daß das metallene Rasseln sie wecken mußte, wenn jemand versuchen sollte, ins Innere des Schuppens zu gelangen. Im Licht der Taschenlampe zog sie das Schlafpolster aus der Tasche, streifte sich eine gefütterte Decke um die Schultern und streckte sich aus, wobei sie den Schneider in der einen Hand hielt. Mit müder Geduld beruhigte sie den in ihr wütenden Aufruhr aus Gedanken und Gefühlen, und nachdem die Decke die Kühle aus ihrem Leib vertrieben hatte, fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Amaiki erwachte kurz nach der Morgendämmerung. Die Luft war kühl und trocken, doch die Sonne begann bereits damit, die Kälte zu vertreiben und mit Hitze zu ersetzen. Irgend etwas strich an den Brettern in der Nähe ihres Kopfes entlang, und sie nahm auch andere Bewegungen wahr, hörte ein leises Knistern und Kratzen: Tikin, Ti-besh, Mikimiki und weitere kleine Nagetiere, die umherkrochen und nach Nahrung suchten. Als sie sich unter der Decke hervorrollte, erblickte sie einen Jiji, der unter dem Gleitschlitten hinwegsauste, mit bauschigem Schwanz und dünnen, haarigen und sehr flinken Beinen. Unmittelbar darauf kam er wieder zum Vorschein, mit einem fingerhutgroßen T’ki im Maul. Er preßte das Beutetier mit den sechsgliedrigen Vorderpfoten zu Boden, ignorierte Amaiki mit jener Gleichgültigkeit, die ihre Erinnerung melancholisch mit den Jejin im Heim ihrer Kindheit in Verbindung brachte, fraß das zuckende Wesen, knurrte zufrieden und rollte sich am Ende des Schlafpolsters zusammen. Seine Augen wurden trübe, als er damit begann, sein Frühstück zu verdauen.
Amaiki lachte leise, fühlte sich vorübergehend nicht mehr ganz so einsam und zog das Ende der Decke unter dem Jiji hervor. Sie lachte lauter, als das kleine Tier ein protestierendes Quieken von sich gab. Anschließend faltete sie die Decke zusammen, verstaute die vor der Tür verstreut am Boden liegenden Werkzeuge und schaltete den winzigen Herd an, um Wasser für den Morgentee zu erwärmen. Die Jejin lebten auf den Conoch’hi-Gehöften, seit Hyaroll den Wanderschaften der einzelnen Clans ein Ende gemacht hatte, liefen ungestört durch die Häuser und Schuppen, die Ställe und Unterstände, bauten sich Nester in Heuhaufen und Kornkisten, verspeisten Insekteneier und Larven, verscheuchten Schlangen und hielten die Anzahl anderer Schädlinge gering. Amaiki summte fröhlich, als sie die Anzeigen der Batterien überprüfte. Sie hatte den Dom am späten Nachmittag verlassen und zwei Stunden nach Sonnenuntergang die Reise unterbrochen. Es überraschte sie festzustellen, wie wenig von dem Energievorrat verbraucht worden war, und das hob ihre gute Stimmung weiter an. Sie summte noch immer, als sie den Gleitschlitten beiseite schob und die Tür aufzog.
Ein klarer und wolkenloser Himmel. Ich könnte eine Weile hierbleiben, dachte sie und verspürte sofortige Erleichterung. Die Vorstellung, die Reise in Richtung unbekannter Gefahren fortzusetzen, ließ ein krampfartiges Unbehagen in ihr entstehen. Sie liebte überschaubare Situationen; Fremdes machte sie unruhig. Sie begrüßte die gute Gelegenheit, einen Vorwand dafür zu nutzen, an Vertrautem festzuhalten.
Nach dem Frühstück überprüfte sie erneut die Batterieanzeigen und seufzte, als sie sah, daß sie fast ganz aufgeladen waren. In der Luft war noch ein Rest von Kühle verblieben, und deshalb zog sie den Mantel über, bevor sie losging, um sich das Anwesen anzusehen. Ein Stall, erbaut aus Holz und Steinen, die vom Acker stammten, verschiedene Pferche, ein karger Gemüsegarten, in dem sogar das Unkraut gelb und verwelkt aussah. Amaiki hob die Abdeckun des Brunnens an und ließ einen Kiesel in das Dunkel fallen. Der kleine Stein klackte einige Male an die Wände und schlug mit einem dumpfen
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