Das Erbe der Vryhh
Keils zu überwinden, ohne einen Alarm auszulösen.<
>In Ordnung.< Die Bernsteinaugen schlossen sich.
Aleytys lachte und stieß die Tür auf. »Ikanom!« rief sie. »Ich sterbe vor Hunger!«
Der Rest des Tages verstrich nur langsam, und Aleytys war bestrebt, sich irgendwie die Zeit zu vertreiben. Sie führte ein langes und interessantes Gespräch mit dem Kephalos, in dem es um das Raumschiff Synkattas ging, und sie stellte fest, daß es Hyaroll tatsächlich fortgebracht hatte. Das Domherz vermochte jedoch nicht zu sagen, wo es sich jetzt befand. Im Anschluß daran erwog sie mit dem Kephalos Möglichkeiten zur Verbesserung des Abwehrsystems, wobei sich herausstellte, daß alles, was ihr in dieser Hinsicht in den Sinn kam, bereits in die Wege geleitet worden war oder sich aus technischen Gründen nicht bewerkstelligen ließ.
Dann befaßte sie sich damit, wie sie selbst in die Offensive gehen konnte, anstatt alle Zeit und Energie darauf zu konzentrieren, sich zu verteidigen. »Glaubst du, du seiest dazu imstande? Ich brauche keine präzisen Angaben; Annäherungswerte genügen.« Das sollte Kell ordentlich in Aufregung versetzen, dachte sie.
Nach einer Weile verließ sie den zufrieden vor sich hinsummenden Kephalos und verspürte dabei eine Aura tiefen Wohlbehagens, in die das Domherz gehüllt war, als es sich in das erste schwierige Problem seit vielen Jahren verbiß. Aleytys erinnerte sich an die Eindrücke, die sich ihr während der Suche nach der Bombe im Innern des Kephalos dargeboten hatten, und sie kam zu dem Schluß, daß sich die Kephaloi mit der Zeit als die wahren Unsterblichen Vrithians erweisen mochten. Lange nachdem der letzte Vryhh von der Bürde der Jahrtausende zu Staub zermalmt worden war, würden die Herzen der verlassenen und leeren Dome noch miteinander sprechen und eine Gesellschaft bilden, die vielleicht Bestand hatte, bis der Planet irgendwann in ferner Zukunft auseinanderbrach. Eine Zeitlang dachte die junge Frau darüber nach und stellte sich eine entsprechende Gemeinschaft vor, bis ihre Visionen so absurd wurden, daß sie sich selbst belächelte und die Bibliothek aufsuchte, um in einem der vielen Bücher Synkattas zu lesen.
Rund eine Stunde nach Mitternacht klappte Aleytys das Buch zu ein Roman, verfaßt von einem aus Shiburr verbannten Autor. Die Vrya bildeten einen düsteren und bedrohlichen dramaturgischen Faden in der ganzen Erzählung, obgleich sie nur selten direkt erwähnt wurden. Die einheimischen Shiburri führten ihr Leben im Schatten der Dome, sich ständig der Gegenwart der Unsterblichen bewußt, ein Empfinden, das alle anderen Gefühle zu verstärken schien und der täglichen Routine und den Beziehungen der einzelnen Personen untereinander offenbar eine neue Qualität gab. Die Protagonisten des Romans vermochten sich diesem ständig auf ihnen lastenden Druck nicht zu entziehen, obwohl es einige von ihnen versuchten. Andere hingegen fanden sich damit ab. Einige wenige zogen sich so weit zurück, daß sie sowohl die Existenz der Welt als auch die der Vrya leugneten. Manche katzbuckelten vor den Unsterblichen, ließen sich von ihnen benutzen, um als Gegenleistung Macht über die Nächsten zu gewinnen. Die Stärksten und Hartnäckigsten bemühten sich, ihr tägliches Leben möglichst intensiv zu führen, verglichen die Vrya mit Stürmen, Erdbeben oder anderen verheerenden Naturkräften, die man nicht kontrollieren konnte, mit denen man irgendwie fertig werden mußte. Die wichtigste im Buch beschriebene Person gehörte zu jener Gruppe.
Es war ein tragischer Roman, in gewisser Hinsicht eine Auflistung all der Katastrophen, die ein aufrechter Mann zu erdulden vermochte, und das Ende des Werkes zeigte keinen Hoffnungsschimmer, stellte Shiburr als unverändert und ohne die Möglichkeit eines Wandels dar. Aleytys legte das Buch beiseite, drehte sich im Bett auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit. Nach einigen Minuten wirren Denkens, das ihr nur Krämpfe in der Magengrube bescherte, unterzog sie sich den Beruhigungsübungen, die Vajd sie vor einer Ewigkeit gelehrt hatte, schuf Ordnung hinter ihrer Stirn und zwang sich in einen tiefen Schlaf.
Aleytys … letys … eytys … tys … tys … Aleytys … tys … tys
… tys. Sie erwachte, als die schmale Hand Ikanoms sie an der Schulter berührte, und zwischen ihren Ohren vernahm sie das dumpfe Echo seiner Stimme. Der von Alpträumen erfüllte Schlaf hinterließ noch einen Rest von Benommenheit, und sie strich die Hand des
Weitere Kostenlose Bücher