Das Erbe der Vryhh
Vorstellung zu gewöhnen, denn im Hirn der Toten hatte bereits der Zersetzungsprozeß begonnen, und außerdem wiesen der Brustkasten und die darin befindlichen Organe erhebliche Schäden auf, die in Ordnung gebracht werden mußten. Entweder sie machte sich innerhalb der nächsten Sekunden ans Werk, oder jede Mühe war umsonst. Also gut, dachte sie. Bringe ich auch das hinter mich.
Aleytys beugte sich über ihre Mutter und legte die Hände auf den rasch abkühlenden Leib. Sie konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe, ignorierte alles andere und ließ die Kraft in den Körper der Toten strömen, mit der sie geboren war, erzeugte ein phantomhaftes Pseudoleben in dem Leichnam, der dem Zellverfall Einhalt gebot. Harskaris Seele verdichtete sich zu einem kompakten Ball, der in sich all die Kräfte fokussierte, die ihr eine geistige Existenz ermöglichten. Mit körperlosen Händen griff Aleytys danach und schob die Kugel in die leere fleischliche Hülle, so wie sie es schon auf Ibex mit Shadith gemacht hatte. Diesmal aber gab es niemanden, der ihr dabei helfen konnte; diesmal mußte sie ganz allein damit fertig werden, obgleich sie müde war und sich elend fühlte.
Als das, was zuvor leer gewesen war, sich wieder gefüllt hatte, begannen sich die Strukturen des Leichnams zu verändern. Das psychische Konglomerat Harskaris breitete sich aus, und unter seinem Einfluß wuchsen gesplitterte und gebrochene Knochen zusammen, fiel verbranntes Fleisch fort, das gleich darauf mit gesunden Zellverbänden ersetzt wurde. Organe formten sich neu, und die tiefen und klaffenden Wunden schlossen sich rasch, heilten von innen nach außen. Neue Haut spannte sich über die Muskeln, alabasterweiß wie auch der Rest des Körpers. Und auch andere und kleinere Wunden schlossen sich, jene Schnitte, die verborgen geblieben waren unter den Resten der verkohlten Kleidung Shareems. Harskari war sich dieses Vorgangs vage bewußt, im Gegensatz zu Aleytys, die sich darauf konzentrierte, die Gewebeschäden im Hirn zu beseitigen - ein schwieriges Unterfangen, bei dem ihr keine Fehler unterlaufen durften. Minuten verstrichen und wurden zu einer Stunde. Dieses Gehirn war komplexer aufgebaut als das, in dem jetzt Shadith dachte, die zerstörten Bereiche umfassender.
Mancherorts waren nur so wenige funktionstüchtige Zellen übriggeblieben, daß Aleytys ihr eigenes Hirn als eine Art Schablone verwenden mußte und neue Strukturen nach diesem Muster entstehen ließ. Und als sie so arbeitete, konnte sie nur hoffen und beten, daß die neuen Zellverbände mit den alten zusammenwachsen würden.
Als sie keine weiteren beschädigten Sektionen mehr fand, ließ sie das energetische Wasser des Kraftstroms in den Körper fließen, gab ihm den Impuls, der ausreichte, um aus Tod Leben zu machen, lehnte sich dann zurück und wartete, bereit dazu, Harskari zu helfen, sollte sie auf Schwierigkeiten stoßen.
Der mentale Glanz der Uraltseele verstärkte sich, als sie sich weiter in dem ehemaligen Leichnam ausbreitete. Die Augen zwinkerten. Die Lippen zuckten und öffneten sich. Harskari holte tief Luft und ließ den Atem zischend entweichen. Sie hob die eine Hand, krümmte die Finger, ließ den Arm ins Gras zurückfallen, beugte die Knie, streckte sie, neigte beide Füße erst zur einen und dann zur anderen Seite. Falten entstanden in den Mundwinkeln und deuteten ein dünnes Lächeln an. Sie winkelte die Arme an und stemmte sich in die Höhe, straffte den Rücken und die Schultern und hob den Kopf. Aus dem dünnen Lächeln wurde ein breites Grinsen. »Du hast es erneut geschafft, Töchterchen.« Die Stimme war nicht ganz deutlich und klang tiefer als die Shareems. Und doch ähnelte der Tonfall dem ihrer Mutter so sehr, daß Aleytys unwillkürlich zusammenzuckte.
»Bitte nicht«, hauchte sie.
»Was? Oh, ich verstehe. Tut mir leid. Reine Angewohnheit.«
Mit jedem Wort verbesserte sich die Kontrolle, -die Harskari auf die Stimmbänder des neuen Leibes ausübte, und kurz darauf begann sie mit einigen Streck- und Bewegungsübungen, um den Körper besser kennenzulernen.
Aleytys sah ihr einige Sekunden lang dabei zu, und dann spürte sie ein seltsames Gewicht auf dem Kopf. Sie hob die Hände, berührte den auf ihrem Haupt ruhenden Gegenstand, ertastete eine kühle und feine Metallblüte. Das Diadem. Es hatte sich in der Diesseitsphase materialisiert, nachdem die letzte darin gefangene Seele in einen Körper gewechselt war. Aleytys nahm es ab, betrachtete es eingehend und
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