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Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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ein hohes Glas, das etwa zu einem Drittel mit goldfarbenem Wein gefüllt war, der noch dunkler zu werden schien, als draußen die Abenddämmerung einsetzte. Schatten erfüllten das Zimmer; das einzige Licht stammte vom Feuer. »Vrithian«, antwortete sie. »Shadith hatte recht. Nur auf diese Weise kann ich Kell von Avosing fortlocken.« Aleytys hob den Kopf, nippte an dem Wein und ließ sich wieder zurücksinken. »Aschla möge seine Leber aufspießen: Er hätte keinen für mich ungünstigeren Zeitpunkt wählen können. Seit meiner letzten Jagd sind über zwei Jahre vergangen. Ich bin fast pleite. Mein Geld genügt gerade, um die Steuern für das Haus zu bezahlen und die Energieversorgung sicherzustellen, während ich fort bin - vorausgesetzt, ich bleibe nicht zu lange weg. Dann sind da noch die Kosten für das Schiff: Treibstoff, Wartung, nötige Reparaturen. Und Shadith und Linfyar. Es bleibt mir keine andere Wahl: Ich muß sowohl das Haus als auch das Grundstück mit einer Hypothek belasten.« Wieder nahm sie einen Schluck von dem Wein und sah anschließend an die Decke. »Verflucht und verdammt! Erst im vergangenen Jahr habe ich meine letzten Schulden beglichen.«
    Shareem bewegte ungeduldig die Schultern. Sie hatte nie Gedanken an ihr so trivial erscheinende Dinge verschwendet und beabsichtigte nicht, jetzt damit zu beginnen.
    Aleytys spürte die Unruhe ihrer Mutter und ließ dieses Thema fallen. Was allerdings nicht viel half, denn jedesmal, wenn Aleytys eine solche Verhaltensweise offenbarte, rief sie Shareem dadurch in Erinnerung zurück, daß ihre Tochter Empathin und somit dazu in der Lage war, selbst die diffusesten Empfindungen in ihr zu spüren. Einige dieser Gefühle wollte sie nicht verraten wissen, denn sie war nicht besonders stolz darauf, zog es vor, sie ganz für sich zu behalten. Eine Empathin. Diese Gabe hat sie nicht von mir. Wer hätte geglaubt, daß die Gene des verrückten Narren, der ihr Vater war, einen derart überraschenden Aspekt aufwiesen?«
    Aleytys berührte einen Sensor. Der Sessel drehte sich summend in Richtung des Fensters. Eine neuerliche Schaltung, und ein zweiter Sessel rollte heran. »Setz dich, Reem. Zu dieser Jahreszeit sind die Sonnenuntergänge besonders herrlich.«
    Shareem ließ sich in dem leeren Sessel nieder, obgleich sie Sonnenuntergängen kein allzu großes Interesse entgegenbrachte und von dieser Art bereits genug gesehen hatte. Statt dessen beobachtete sie ihre Tochter. Während sich draußen der Himmel mit einem zinnoberroten Schimmern überzog, wurden die Züge Aleytys’ weicher und sanfter, die Augen größer. Sie wirkte fast glücklich, verloren in dem farbenprächtigen Glühen jenseits des Fensters, offen und verletzlich. Sie reagierte auf den für Shareem eher kümmerlich wirkenden Sonnenuntergang mit einer Intensität, von der ihre Mutter wußte, daß sie sie niemals hätte teilen können. Sie war geneigt, sich selbst zu belächeln - war sie jetzt etwa schon eifersüchtig auf eine untergehende Sonne? -, konnte es jedoch nicht ertragen, noch länger das Gesicht Aleytys’ zu betrachten.
    Als sich die Farben verflüchtigten und der Himmel eine indigoblaue Tönung gewann, in der sich das erste Sternenfunkeln zeigte, richtete Shareem den Blick wieder auf ihre Tochter. Es überraschte sie zu sehen, wie Tränen über die Wangen Aleytys rannen, lautlos und stumm. Die junge Frau unternahm keinen Versuch, sie zurückzuhalten oder fortzuwischen. Ihre Lippen bildeten einen dünnen Strich. Sie hatte das Weinglas auf dem Boden neben dem Sessel abgestellt, und ihre Hände waren zusammengefaltet, fast miteinander verknotet, so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten und sich das Blut in den Kuppen staute.
    Vermutlich verursachte Shareem irgendein Geräusch -obgleich sie sich dessen nicht bewußt war -, denn Aleytys entspannte die Hände, setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Entschuldige«, sagte sie. Sie griff neben den Sessel, fand einen Stoffetzen, putzte sich die Nase und warf das improvisierte Taschentuch anschlie
    ßend ins Feuer. Einige Male atmete sie tief durch. »Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, daß ich von hier fortgehe. Zumindest für eine Weile.« Mit den Handrücken fuhr sie sich über die Augen und brachte ein Lächeln zustande. »Wenn wir beide zu Hause waren, saßen Grey und ich hier zusammen.« Sie nahm einen weiteren Knäuel und putzte sich erneut die Nase. »Ich werde immer wieder von der Erkenntnis überrascht, daß er vielleicht

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