Das Erbe der Vryhh
Lied, Schatten, o Schatten.
Neuntag. Markttag. Bauern und Viehzüchter, die aus dem Grasland im Norden kommen, die nach Keama Dusta fliegen und dort das Früchteangebot der lokalen Gärten mit ihren Produkten erweitern, mit rotem Fleisch und Geflügel. Fischer mit den Dingen, die ihre Netze aus dem Meer holten. Waldbewohner mit Kräutern, Stärkungsmitteln und kleinen, mit besonderen Likören gefüllten Flaschen, mit Vorräten aus erlesenem Holz, neuen Blumen und anderen Pflanzen. Shadith wird immer wieder bedrängt. Man will nicht zulassen, daß sie aufhört zu singen. Und sie soll nur die Shayalin-Weisen anstimmen, keine anderen Melodien. Auf ihrem K’shun herrscht immer dichtes Gedränge, und die Menge der Zuhörer erstreckt sich bis in die Talishi.
Sing uns ein verrücktes Lied, Schatten, o Schatten. Sing uns ein fröhliches Lied, auf daß wir lachen und uns freuen. Sing für uns, o Schatten, o Schatten.
Vom Wald her kam ein Sucher mit einer Tasche voller Bernstein.
Tjepa flüsterte Shadith zu, er habe zuerst seiner Familie einen Teil gegeben und dann die Pajungg-Gier befriedigt, jedoch zehnmal soviel versteckt, um Geschäfte mit Schmugglern zu machen. Alle wußten davon, doch niemand verriet etwas.
Sing uns ein Lied des Triumphes, o Schatten, o Schatten. Sing uns ein Lied von Seide und süßer Behaglichkeit. Sing von unseren Träumen, o Schatten, o weiser Schatten. Sing uns ein Lied des Triumphes, o Schatten, unser Schatten.
Ein Emissär kam vom Doawai, ein niederrangiger Hiepler in der Kathedralenhierarchie, begleitet von einer Zehnergruppe Kirchensoldaten. Grob bahnte er sich einen Weg durch das Gedränge der Zuhörer und blieb vor Shadith stehen. »Sängerin«, sagte er,
»heute ist Korbetag. Am Sukantag wirst du für den Doawai singen.« »Schön«, erwiderte Shadith. »Am Sukantag singe ich im Sebela-K’shun. Hanns Taverne grenzt daran an. Wenn dein Doawai mein Lied vernehmen möchte, so kann er einen der Balkone Harins mieten.«
»Nein, nein«, hieif ihr der Hiepler hastig entgegen. »Du sollst in der Kathedrale singen. <
»Nein«, widersprach Shadith. »Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Was?«
»Ich mag keine Mauern. Wenn der Doawai mich hören möchte, so muß er sich hierher begeben.«
»Der Doawai kommt nicht zu irgendwelchen Leuten; die Leute kommen zu ihm,«
»Pech für ihn. Auf diese Weise entgeht ihm eine Menge. Auch mein Gesang.«
»Es ist eine Ehre, zu ihm bestellt zu werden.«
»Auf diese Ehre kann ich verzichten.«
»Du weigerst dich?«
»Hervorragend - endlich hast du begriffen.« Shadith strich mit der einen Hand über die Harfensaiten, und die zarten Klänge kamen einem akustischen Symbol für die Beendigung des
Gesprächs gleich. »Geh jetzt und laß mich für diese braven Männer und Frauen singen.«
Der Emissär blickte sich um, sah die vielen Zuhörer und spürte ihre Feindseligkeit ihm gegenüber. Mit einer jähen Kopfbewegung, die wie eine Parodie auf eine höfliche Verneinung wirkte, drehte er sich um und marschierte davon, wobei er der sich vor ihm teilenden Menge keine Beachtung schenkte. Die schweigenden Kirchensoldaten folgten ihm dichtauf.
Sing uns ein Lied, Schatten, sing uns den Traum davon, selbst über unsere Welt zu bestimmen. Oh, sing uns ein Lied von Freiheit, o Schatten, ein Lied von dem Leben, das wir gerne führen möchten.
Oh, sing uns aus unserer Apathie, sing, o sing uns aus unserer Furcht,
Es war der Vorwand, den Shadith brauchte - der Zufall, der ihr zu Hilfe kam, auch wenn er neue Probleme bereithalten mochte.
Perolat warnte sie und meinte, wenn der Hiepler das nächstemal komme, bringe er sicher eine Ladung mit, die sie auffordere, sich vor einem Häresietribunal zu verantworten - und das Angebot, die Anhörung zu vermeiden, indem sie vor dem Doawai singe. Sie brauche noch nicht mit einem Arrest zu rechnen. Das würde erst später geschehen, wenn sie nicht vor dem Tribunal erscheine. Und wenn sie aus Keama Dusta floh? War das nicht genau das, was alle anderen an ihrer Stelle getan hätten? Wenn sie sich in die Wildnis zurückzog und in Wald- und Graslanddörfern sang - wer konnte dann schon argwöhnen, daß das von Anfang an ihr Plan gewesen war? Aufgrund der im Verlauf der letzten Tage gesammelten Hinweise hatte Shadith eine ungefähre Vorstellung von der Region, in der der Ajin besonders aktiv war. Wenn sie deutlich zum Ausdruck brachte, wie wenig sie vom Doawai hielt und wie sehr ihr Avosing gefiel, wenn sie provokative Lieder
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