Das Erbe der Vryhh
daß ich dir ins Gesicht spucke? Unternimm endlich etwas …
Shadiths zweiter Neuntag. Sie hat gerade eine Vorstellung beendet und macht sich bereit, um an der Feier teilzunehmen, mit der das Amun-Bar zelebriert wird. Der Hiepler bahnt sich einen Weg durch die dichtgedrängte Menge, bleibt vor Shadith stehen und liest aus einem Dokument vor. Sie werde aufgefordert, so teilt er ihr mit, vor dem Tribunal des Impor Melangg zu erscheinen, um sich in Hinblick auf eine Anklage der Häresie und verdächtiger Aktivitäten zu rechtfertigen. Wenn sie jedoch mit ihm käme, um in der Kathedrale zu singen und den weisen und gutgemeinten Lehren des Doawai zu lauschen, so sei die Anhörung nicht nötig. »Ich habe es dir doch schon gesagt: Ich halte nichts von
Mauern.«
»Wenn du dich erneut weigerst, so mußt du mit einer Beschlagnahme deiner Habe rechnen. Das Instrument …« - er deutete auf die Harfe -, » …dein Gefährte, das singende Tier …« -eine Hand zeigte auf Linfyar -, » …alles, was du besitzt.« Der Hiepler starrte sie groß an, und in seinen Augen blitzte es feindselig. »Vielleicht sollte ich diese Sachen sofort mitnehmen.« Er hob
die Arme.
»Nein.« Shadith sprang auf und trat vor Linfyar. »Wage es nicht.«
Bevor der Hiepler zu reagieren vermochte, kam Unruhe in die Menge. Sie drängte sich gegen den Gesandten des Doawai und die Eskorte, und ein dumpfes und zorniges Brummen aus tausend Kehlen ertönte. Tausend wütende Blicke richteten sich auf den Hiepler und seine Begleiter.
Der Kirchenemissär kannte die Avosinger gut genug, um ihr Gebaren als Drohung zu verstehen, und der begnügte sich mit der Verkündigung, die Kirche betrachte alle minderjährigen Kinder ohne erwachsene Verwandte - Pajungg und andere - als Mündel des Staates, als Personen, die der Autorität des Doawai unterlägen und seinen Schutz genössen. Dann drehte er sich um und marschierte davon, hastig und dichtauf gefolgt von den Soldaten der Eskorte, die angesichts der Eile einen Großteil ihrer Würde einbüßten.
Shadith lächelte und ließ sich wieder auf dem Boden nieder. Sie stimmte ein fröhliches Lied an, das sie in die Mundart der Pajungg von Avosing übersetzt hatte und in dem es um einen ausgesprochen ungeschickten, jedoch sehr glücklichen Raumfahrer ging. Linfyar klopfte im Takt auf den Stein und begleitete ihren Gesang mit seinem melodischen Pfeifen. Shadith intonierte auch später noch die Sage von Jigalong Jon, als die Amun-Bar-Feier begann, und die Sucher und ihre Freunde klatschten und wiederholten den Refrain, während Shadith nach Luft schnappte und sich auf die nächste Strophe vorbereitete.
An jenem Abend nach dem Essen wandte sich Shadith an Perolat.
»Was immer auch du in dieser Hinsicht zu unternehmen gedenkst«, sagte sie, »tue es nicht für mich, sondern für dich. Ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber mir gefällt die Vorstellung nicht, eine solche Verantwortung auf mich zu laden.« Und in Gedanken fügte Shadith hinzu: Ich habe so viele Jahre im Bewußtsein Lees gelebt, daß vermutlich einige der für sie typischen Gewissensbisse auf mich abfärbten. Sie versuchte, sich selbst zu verulken und die für sie charakteristische heitere Zuversicht zu zeigen, doch das wollte ihr diesmal nicht so recht gelingen. »Wenn ihr euch als zu aufsässig zeigte, zwingt ihr die Kirche dazu, direkt gegen euch vorzugehen, und die Macht des Doawai ist größere als die eure. Ich habe auf anderen Welten erlebt, wie so etwas geschah. Und ich bin ganz sicher keine solche Katastrophe wert.«
Perolat lächelte und fuhr mit den Kuppen ihrer langen Finger über die Brauen Shadiths. »Was für ein ernstes kleines Mädchen .
. . Wir verteidigen unsere Freiheit mit jedem Tag von neuem, mit allem, was wir tun. Und wenn wir dann und wann nicht verdeutlichen, was wir von einer bestimmten Sache halten, geben wir uns selbst auf. Wir lassen es nicht zu, daß man Verwandten oder Freunden von uns im Heim nachstellt. Draußen bist du Freiwild für verschiedene Arten von Raubtieren. Denk daran.«
»Ich werde es nicht vergessen. Und wenn ich euch verlasse, so weißt du, daß ich aus freiem Willen ging und bereit bin, die Konsequenzen zu tragen.«
»Ich hoffe, jene Bürde wird nicht zu schwer für dich. Ich wünsche dir den Segen des Po’ Annutj. Mögest du finden, was du auf Avosing suchst.«
»Pero …«
»Nein, was wir nicht wissen, können wir auch nicht verraten.
Du meinst es nicht böse mit uns, und das genügt.«
»Bist
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