Das Erbe der Vryhh
vorsichtig, so daß die einzelnen Faserstränge nicht zerrissen. Als Bodri herangewankt kam, war es Willow bereits gelungen, die meisten der langen Wurzelhaare voneinander zu trennen, und sie betrachtete sie zufrieden. Sie bedauerte dabei, daß sie bisher praktisch gar kein Interesse an den vielen Pflanzen und Bäumen gezeigt hatte, die neben den fleischlichen Exemplaren des Zoos von Hyaroll gesammelt worden waren und die nun überall im Anwesen verteilt wuchsen, der Fürsorge der Eisenköpfe und der Eidechsenleute überlassen, die hier schon immer lebten. Nach ihrem ersten Erwachen hatte Willow angenommen, jene Wesen gehörten ebenfalls zum Zoo, doch als sie bei ihren neugierigen Ausflügen durch den Park und die ganze Anlage am Rand der Domperipherie entlangwanderte, sah sie die reptilienartigen Geschöpfe überall außerhalb der Barriere. Sie arbeiteten auf den Feldern, wechselten zwischen dem Acker und einigen niedrigen Häusern hin und her, die in der Ferne auf einer Hügelkuppe zu erkennen waren. Keine gesammelten Musterexemplare einer weiteren Spezies, sondern nur Sklaven des Alten Steinernen Vryhh, der ganz nach Belieben über sie gebot.
»Was machst du denn da, Willow?« Bodri schwankte an einem Busch vorbei und ließ sich mit einem dumpfen Pochen auf den grasigen Boden sinken. Willow hob überrascht den Kopf. Noch niemals zuvor hatte er sie einfach nur bei ihrem Namen genannt, ohne einige zärtliche Koseworte hinzuzufügen. In dem Rückenschildgarten sah sie gelbe und verwelkte Blätter an den Miniatursträuchern, und ihr erstaunter Blick fiel auch auf einen Blumenhalm mit faltigen und blassen Blütenblättern - ein sicheres Zeichen für eine der recht seltenen melancholischen Phasen Bodris.
Willow streckte die eine Hand aus, so daß er die Fasern sehen konnte. »Ich stelle einen Strick her«, sagte sie.
Die Kiefer Bodris bewegten sich und deuteten eine Art Lächeln an. Der eher trübe Glanz in seinen Augen erhellte sich ein wenig.
»Wird aber ziemlich kurz.«
»Möchte nur feststellen, ob es überhaupt möglich ist, ob die Fasern einer Belastung standhalten, ohne zu reißen.« Mit dem Daumennagel strich sie über die einzelnen Fäden hinweg. »Der Alte Steinerne Vryhh - hat er hier auch giftige Pflanzen?«
»Warum fragst du?«
Willow zuckte mit den Achseln und rollte einige der Fasern auf ihrem Oberschenkel zu einem dünnen Bündel zusammen. Faden für Faden machte sie den auf diese Weise entstehenden Strick länger, hielt ihn dann und wann in die Höhe, um festzustellen, ob die einzelnen Bestandteile auch fest genug zusammenhielten, zog versuchsweise daran. Sie setzte ihr Werk fort und stimmte mit schnalzender Zunge ein Arbeitslied an, sehr zufrieden über den Ausgang ihres Experiments.
»Eine Schlinge für den alten Vryhh?« Bodri vergaß seine düstere Schwermut, schob sich näher an Willow heran und beobachtete den entstehenden Strick mit einer Aufmerksamkeit, die er für gewöhnlich nur seinen Pflanzen entgegenbrachte.
»Mhm. Vielleicht. Möglicherweise auch eine Bogensehne.«
»Aha.« Bodri entrollte seine Fühler auf ihre volle Länge, ließ sie elegant hin und her schwingen und faltete sie wieder zusammen.
»Du solltest besser darüber schweigen.« Während er sie weiterhin beobachtete, kamen seine Pseudopodienarme eigenständigen Wesen gleich unter dem Schild hervor, und die dünnen und kräftigen Finger tasteten nach den in seinem Rückenpanzer wachsenden Pflanzen. Sie zupften die welken Blätter fort und entfernten behutsam auch die faltigen Blütenblätter.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Willow, wie sich ihr Freund dabei hin und her wand, wie er zitterte und bebte, und sie war froh, daß sie es geschafft hatte, ihn von seinem Kummer zu befreien. Sie erhoffte sich zwar nicht sehr viel von ihnen, doch der Anblick der Fasern in der Wurzelhaut hatte einen bestimmten Gedankengang in ihr initialisiert, erinnerte sie an etwas. Sie ließ die Hände ruhen und betrachtete die Fäden erneut, wobei sie andeutungsweise die Stirn runzelte. Nach einigen Sekunden drehte sie den Kopf und blickte über die Schulter hinweg in Richtung des Hauses, dessen Dach jenseits der Baumwipfel zu sehen war. Dann fügte sie dem Strick die letzten Haarstränge hinzu, wickelte ihn sich um die linke Hand und verspürte eine Stärke darin, die ihre Einschätzung in Hinblick auf die Möglichkeiten änderte. »Alter Vryhh«, sagte sie, »es gefällt ihm, uns dabei zu beobachten, wie wir Pläne schmieden. Das bereitet
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