Das Erbe der Vryhh
was du hörst.« Sie hob den Arm, ließ ihn wieder sinken. »Die meiste Zeit war ich hungrig, verschmutzt, durcheinander und gelangweilt oder zu Tode erschrocken. Aufregend? Nein, das kann man eigentlich nicht behaupten.«
»Nein, nein.« Filiannis schloß die Hand um den Arm Aleytys’, so fest, daß die Fingernägel in die Haut der jungen Frau stachen.
Die Züge der Vryhh brachten eine plötzliche Gier zum Ausdruck, und ihr Tonfall erstaunte Aleytys, stieß sie ab. Sie verglich Filiannis mit einem Blutegel, der Anstalten machte, sie leerzusaugen.
Aleytys rührte sich nicht von der Stelle und wartete darauf, daß die Vryhh weitersprach. »Nein.« Filiannis streckte die Finger, ließ den Arm los und schien erneut einen Großteil ihrer Kraft einzubüßen, als ihre Hand herabsank. Sie starrte an Aleytys vorbei ins Leere, betrachtete vielleicht ein flüchtiges Erinnerungsbild, entsann sich möglicherweise an ein längst vergessenes Gefühl. Ihre knittrigen Lippen zitterten ein wenig. Dann drehte sie den Kopf und schien erstaunt zu sein, daß Aleytys und Shareem noch immer vor ihr standen. »Besuch mich einmal, Vryhh-Tochter; das würde mich sehr freuen.«
»Ja, gern. Das mache ich.«
Filiannis stand auf. »Mein Dom befindet sich in Beyinne. Shareem kann dir den Weg weisen.« Sie ging fort, und Fia und Lia folgten ihr still.
Aleytys fühlte einen kalten Knoten in ihrer Magengrube, als sie ihnen nachsah. Filiannis wirkte fast ebenso jung wie Shareem.
Trotz der vergangenen Jahrhunderte war ihr Äußeres makellos geblieben. In ihrem Innern jedoch herrschte Fäule. Als Shareem ihr von den Selbstmorden erzählt hatte, die die Anzahl der Vrya immer wieder reduzierten, war Aleytys zunächst nicht bereit gewesen, ihr zu glauben. Jetzt jedoch begann sie allmählich zu verstehen. Sie beobachtete, wie Filiannis in der Menge der anderen Vrya verschwand. Wenn sie nicht durch einen Unfall oder eine Krankheit ums Leben kam, so überlegte sie, wenn sie jemals so ausgehöhlt werden sollte wie jene Filiannis … Für diesen Fall nahm sie sich vor, ihr Raumschiff in die nächste Sonne stürzen zu lassen. Sie wandte sich Shareem zu und wollte ihr etwas sagen.
»Nicht hier«, hauchte ihr die Vryhh zu.
Aleytys sah sich um und seufzte.
Hrigis war ein weiterer uralter Geist, der in einer jungen fleischlichen Hülle wohnte. Die jugendliche Elastizität ihres Leibes stellte einen auffallenden Kontrast zu dem Kern dar, der einer schrumpeligen und verdorbenen Frucht ähnelte. Zwar war Hrigis aufgeschlossener, scharfsinniger und lebendiger als Filiannis, doch in ihren grünen Vryhh-Augen glänzte die emotionale Wärme polierter Jade. Vielleicht hatte sie ihren Vorrat an Gefühlen schon vor so langer Zeit aufgebraucht, daß sie sich überhaupt nicht mehr daran erinnern konnte, wie es war, etwas zu empfinden. Ihr Stimme vibrierte in einem melodischen Sopran, klang geübt und sehr deutlich, drückte eine Vitalität aus, an der es dem Rest ihres Wesens mangelte. »Willkommen auf Vrithian, Aleytys, Shareems Tochter, Tochter der Tennanth-Ahnenreihe, Verwandte und Freundin.« Sie drückte kurz die Hand Aleytys’, ließ sie dann wieder los. »Sei auf der Hut, Aleytys, denn du hast hier Feinde. Wenn Kell seine Herausforderung registrieren läßt und du das Mesochthon verläßt, bist du deines Lebens nicht mehr sicher. Ich nehme an, er trifft hier ein, sobald diese langweilige Zeremonie vorüber ist, Sei vorsichtig. Du bist sehr interessant, und ich zweifle nicht daran, daß deine Gesellschaft weitaus angenehmer ist als die Kells.«
Shareem umfaßte den Arm Aleytys’ und führte sie weiter. Ihre Hand zitterte, und sie wirkte sehr besorgt. »Ich dachte, uns bliebe mehr Zeit«, murmelte sie. »Aber ich hätte es wissen müssen: Bestimmt hat ihn jemand davon benachrichtigt, daß ich dich hierherbringe.«
»Früher oder später mußte es so kommen«, erwiderte Aleytys ruhig. »Besser jetzt, während wir ihn erwarten. Und außerdem: Wenn er hier ist, kann er nichts gegen Grey und Shadith unternehmen.«
»Du weißt gar nicht, wovon du redest. Ein Angriff auf dich ist unmöglich, solange es seinerseits keine offizielle Herausforderung gibt. Aber ich wünschte mir, wir hätten Zeit genug, uns hier einzurichten, bevor die Auseinandersetzung beginnt.« Sie strich sich durchs Gesicht, in dem Bestreben, die Sorge aus ihren Zügen zu wischen. Und die angespannten Schultern machten die Mühe deutlich, die ihr das schiefe Lächeln abverlangte.
Aleytys
Weitere Kostenlose Bücher