Das Erbe des Alchimisten
»Hast du sie getötet?«
Kalika reagiert kühl. »Das soll nicht deine Sorge sein. – Das Baby ist da. Ich will es sehen.«
Woher weiß sie, daß das Baby da ist? »Nein«, lüge ich. »Paula liegt noch in den Wehen. Du kannst das Baby noch nicht ansehen.«
Erst nach einer Weile fragt Kalika: »In welchem Krankenhaus seid ihr?«
»Hier, im örtlichen. Gib mir bitte einmal Ray, ja?«
»Ray ist nicht hier. Wie heißt das Krankenhaus.«
»Aber er geht doch sonst nie fort. Bist du sicher, daß er nicht da ist?«
»Ich bin sicher. Ich sage dir die Wahrheit, Mutter. Und du wirst sie mir auch sagen. Wie heißt das Krankenhaus, in dem ihr euch befindet?«
Auch als Mensch mag ich es nicht, wenn man mich herumkommandiert. »Gut, ich werde es dir sagen. Wenn du mir sagst, warum es für dich so wichtig ist, das Baby zu sehen.«
»Das würdest du nicht verstehen.«
»Ich habe dich geboren. Ich bin älter, als du es dir vorstellen kannst. Und ich verstehe mehr, als du dir vorstellen kannst. Versuch es mir zu erklären.«
»Es geht dich nichts an.«
»Gut. Dann geht es dich auch nichts an, wo das Kind ist. Und nun will ich mit Ray sprechen.«
Kalikas Stimme klingt sanft, doch ich spüre die Spannung darin. »Er ist nicht hier, das habe ich bereits gesagt. Ich lüge nicht, Mutter.« Sie fügt hinzu: »Aber Eric ist hier.«
Ich höre mein Herz laut pochen. »Was meinst du damit?«
»Er sitzt neben mir auf der Couch. Er ist noch immer gefesselt, aber nicht geknebelt. Möchtest du mit ihm reden?«
Ich habe das Gefühl, mich auf einem sinkenden Boot zu befinden, das jeden Moment untergeht. Es war ein Fehler, mich mit Kalika anzulegen, denn sie ist auch für mich absolut unberechenbar. Ich hätte nicht so unfreundlich zu ihr sein dürfen.
»Gib ihn mir«, sage ich.
Ich höre einige Geräusche, die klingen, als würde meine Tochter die Sprechmuschel kurz mit der Hand abdecken. Dann ist die Verbindung da. Eric hört sich ganz und gar nicht gut an.
»Hallo?«
»Eric, ich bin’s. Geht es dir gut?«
Er atmet schwer, und man hört, daß er Angst hat. »Ich weiß nicht. Diese Frau sagt, daß du ihr etwas Bestimmtes sagen müßtest, ansonsten würde etwas Schreckliches mit mir geschehen.«
»Gib sie mir wieder. Sofort!«
Ein Augenblick verstreicht, doch Eric bleibt am Hörer. »Sie will nicht mit dir reden. Sie sagt, du mußt mir sagen, in welchem Krankenhaus du bist. Sie sagt, wenn du mich belügst, wird etwas wirklich Schlimmes mit mir passieren.« Eric keucht vor Angst. »Kannst du ihr nicht den Namen des Krankenhauses nennen? Bitte. Dieses Mädchen – sie ist so stark. Sie hat mich mit einer Hand hochgehoben und hierher getragen.«
»Eric«, sage ich, »mach ihr klar, daß ich sofort mit ihr reden muß.«
Ich höre, wie er mit Kalika spricht. Sie zwingt ihn, weiter am Hörer zu bleiben. Ich sehe ihn förmlich vor mir, mit noch immer gefesselten Armen und Beinen, wie Kalika den Hörer an sein Ohr hält. Die Tränen in seinen Augen – ich sehe auch sie, und ich erinnere mich an die Schwüre, die ich ihm geleistet habe.
»Aber ich verspreche dir, daß du nicht sterben wirst. Ich schwöre es dir, Eric, und ich halte mein Wort.«
»Du mußt mir helfen!« schreit er. »Sie hat so lange Nägel, und sie sagt, daß sie die Adern an meinem Hals damit öffnen wird, wenn du ihr nicht sagst, in welchem Krankenhaus du bist. Au! Sie faßt mich an!«
»Sag ihr, der Name des Krankenhauses ist St. Judes.«
»Es ist St. Judes!« schreit er. Dann eine Pause, die an meinen Nerven zerrt. »Sie sagt, daß du lügst. O Gott! Ihre Nägel!«
Schweiß tropft von meiner Stirn. Mein Herz klopft wie ein Preßlufthammer.
»Kalika!« rufe ich ins Telefon. »Sprich mit mir!«
»Sie schüttelt den Kopf.« Eric schluchzt. »Sie kratzt über meinen Hals. Lieber Gott, hilf mir.«
Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, aber es gelingt mir nicht. »Eric, schieb ihr den Hörer ins Gesicht.«
»O Gott, ich blute. Sie hat in meinen Hals geschnitten. Das Blut strömt heraus. Hilf mir!«
Er beginnt zu röcheln. »Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich will nicht sterben!«
Das sind die letzten verständlichen Worte, die er von sich gibt. Der Rest ist Schluchzen, das sich in ersticktes Keuchen wandelt. Dann höre ich nichts mehr. Vermutlich hat sein Herz aufgehört zu schlagen. Ich sacke gegen die Wand. Die Leute auf dem Krankenhausflur starren mich an, aber ich sehe sie gar nicht. Kalika läßt mich die Stille genießen. Eine weitere Minute verstreicht, bevor sie den Hörer
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