Das Erbe des Alchimisten
Intensität und gleichzeitig Leichtigkeit. Sie flüstert kaum hörbar, und doch scheinen ihre Worte den Raum zu erfüllen: »Vater unser, der du bist im Himmel …«
»Hallo«, mache ich mich schließlich bemerkbar. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Paula lächelt, als ich ihr das Kind reiche. Der Junge ist klug – er sucht und findet gleich darauf ihre rechte Brustwarze. Ich hocke mich neben Paulas Bett in das halbdunkle Zimmer. Das Fenster ist geöffnet, es geht auf Mitternacht zu. Die Lichter der Stadt funkeln bunt und hell zu uns herüber. Ich muß die ganze Zeit an Seymour und an Eric denken. Mir bleiben noch zweiundzwanzig Stunden, um das Unmögliche möglich zu machen.
»Wie geht es dir?« frage ich.
»Großartig. Ich bin kaum wund. Ist er nicht entzückend?«
»Wenn er noch entzückender wäre, könnten wir ihn vor Begeisterung wohl gar nicht mehr aus den Augen lassen.«
»Danke, daß du bei mir geblieben bist.«
»Bist du immer noch ärgerlich darüber, daß ich dich hierher gebracht habe.«
Paula wirkt verwirrt. »Ich fühle mich in diesem Krankenhaus wirklich wohl, aber warum hast du mich hierher gebracht?«
Ich beuge mich zu ihr vor. »Ich würde diese Frage jetzt gern ehrlich beantworten, denn vorhin habe ich dich angelogen, was du, wie ich glaube, auch weißt. Doch darf ich dich erst nach dem Vater des Kindes fragen, bevor ich dir eine Antwort gebe?«
Paula scheint erschrocken. »Warum willst du das wissen?«
»Wegen genau dieser Reaktion, die du jetzt zeigst. An dem Tag, als wir uns kennenlernten, hast du genauso reagiert, als ich dich nach dem Vater gefragt habe.« Ich mache eine Pause, bevor ich fortfahre: »Ich würde wirklich gern wissen, unter welchen Umständen du schwanger geworden bist.«
Paula versucht mich abzuwimmeln. »Oh, vermutlich auf die ganz normale Weise.«
»Tatsächlich?«
Paula betrachtet mich. Obwohl sie gerade ihr Baby stillt, ist ihr Blick hellwach. Mir erscheint es wie pure Ironie, daß sie genau das gleiche an mir bemerkt.
»Du bist sehr aufmerksam, Alisa«, sagt sie. »Das ist mir gleich aufgefallen, als wir uns kennengelernt haben. Dir entgeht nichts. Warst du schon immer so?«
»Jedenfalls eine lange Zeit.«
Paula seufzt und schaut aus dem Fenster auf die Lichter der Stadt. »Sie nennen das hier die Stadt der Engel. Und ich glaube, nur ein Engel würde mir glauben, was ich dir jetzt sage. Der Priester in St. Andrews jedenfalls hat mir nicht geglaubt. Ich habe ihm eines Tages in der Beichte meine ganze Geschichte erzählt. Er hat mir zehn Ave Maria als Buße auferlegt. – Das ist ziemlich viel, weißt du.«
»Dann muß es eine ungewöhnliche Geschichte sein.«
Paula schüttelt den Kopf. »Es ist eine verwirrende Geschichte, und ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.«
»Am Anfang natürlich, das ist immer am leichtesten.«
Paula starrt weiterhin aus dem Fenster, während ihr Baby genüßlich trinkt. »Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen – das habe ich dir ja bereits erzählt – und war die meiste Zeit meines Lebens allein, selbst dann, wenn Menschen da waren. Ich lebte in meiner eigenen kleinen Welt, weil mir die Welt um mich herum so rauh und grausam erschien. Aber ich war nicht unglücklich. Ich habe durchaus Momente und Zeiten erlebt, in denen ich froh und zufrieden war. Manchmal brauchte es nur eine Blume oder einen Schmetterling, um mich glücklich zu machen. Manchmal war die Freude so groß, daß ich schier ohnmächtig darüber wurde. Hin und wieder verirrte ich mich, und manchmal wußte ich kaum, was ich tat. Wenn das geschah, wurde ich von der Frau, die damals das Waisenhaus leitete, zum Arzt gebracht. Dort machte man alle möglichen Tests und teilte mir schließlich eine düstere Diagnose mit.«
»Epilepsie«, sage ich.
Paula ist überrascht. »Woher weißt du das?«
Ich zucke mit den Schultern. »Weil der heilige Paul und Johanna von Orleans ebenfalls für Epileptiker gehalten wurden, wenn sie Visionen hatten und Stimmen hörten. Es war und ist eine übliche Diagnose für derartige Mysterien. Aber ich habe dich unterbrochen; fahr doch bitte fort.«
»Das alles wußte ich nicht. Ich wußte nur, daß ich in den Momenten, in denen ich mich am lebendigsten fühlte, Schwierigkeiten hatte, ganz bei Bewußtsein zu bleiben. Doch wenn ich ohnmächtig wurde, war ich nicht wirklich fort. Das Gegenteil war der Fall: Ich fühlte mich, als ob ich mich in einem Reich der Schönheit und des Lichts befand. Nur daß es sich eben alles in meinem Innern abspielte. So konnte
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