Das Erbe des Alchimisten
ergreift.
»Dann hättest du niemals geboren werden dürfen«, sagt sie ruhig. »Wolltest du ihm das sagen, Mutter? Das ist doch dein berühmter Ausspruch.«
Ich bin kaum bei Sinnen. »Du«, flüstere ich.
»Ich will das Baby sehen«, wiederholt sie.
»Nein.«
»Wie heißt das Krankenhaus, und wo ist es?«
»Ich würde es dir niemals sagen!« stoße ich hervor. »Du bist ein Ungeheuer!«
Sie scheint zu lächeln, ich höre es an ihrer Stimme. »Und was bist du? Was hat dir Krishna über Vampire im Kali Yuga gesagt?«
Ich muß annehmen, daß Ray Kalika von meinem Gespräch mit Krishna erzählt hat. Aber ich bin im Moment absolut nicht in der Stimmung für philosophische Diskussionen. Ich habe stets daran geglaubt, daß eine Tochter die Leere in mir füllen würde, die ich seit so langem empfinde. Jetzt habe ich eine Tochter, aber das Schicksal hat mir eine mehr als ironische Antwort auf meinen Wunsch gegeben. Erics Todesschreie hallen noch immer in meinem Kopf wider.
»Ich bin jetzt ein Mensch«, flüstere ich. »Ich töte nur, wenn ich nicht anders kann.«
»Genau wie ich. Dieses Baby – du weißt nicht, was ich für es empfinde.«
»Was du für es empfindest? Du hast keine Empfindungen, Tochter.«
»Darüber werde ich mich nicht mit dir streiten. Und ich werde meine Fragen nicht wiederholen. Beantworte sie, oder du wirst es bereuen.«
»Ich werde dir niemals wieder eine Antwort geben.«
Kalika zögert nicht. »Hier ist noch jemand anders, der mit dir sprechen will. Er sitzt ebenfalls neben mir auf der Couch. Aber ich habe ihn geknebelt. Wenn du dich einen Moment geduldest, werde ich ihm den Knebel abnehmen.«
O nein! schreit alles in mir. Wen habe ich da nur geboren?
Seymour kommt an den Apparat. Er hört sich entsetzlich aufgeregt an.
»Sita. Was geht hier vor?«
Meine Stimme klingt angsterfüllt. »Was machst du bei mir zu Hause?«
»Deine Tochter hat mich vor sechs Stunden angerufen. Sie sagte, daß sie mit mir reden müsse. Ich denke, daß Ray ihr meine Nummer gegeben hat. Weißt du noch, daß Ray und ich mal Freunde waren, als wir noch auf die High School gingen? Ich habe die erste Maschine genommen, und deine Tochter hat mich vom Flughafen abgeholt.« Er verstummt und betrachtet womöglich Erics Leichnam. »Anfangs war sie richtig freundlich zu mir.«
»Ich habe dich doch davor gewarnt zu kommen. Ich habe dir gesagt, daß es gefährlich wäre.«
»Ja, aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Ich verstehe. Ist Ray auch da?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.« Seymour hustet, und ich höre seine Angst. Im Hintergrund wird geredet. »Deine Tochter sagt, du solltest mir den Namen des Krankenhauses nennen, in dem du dich befindest.«
»Oder sie wird dir etwas antun?«
»Das hat sie nicht wortwörtlich gesagt, aber man muß wohl davon ausgehen.« Dann fährt er fort: »Sie scheint zu wissen, wann du lügst.«
»Sie weiß eine Menge Dinge.« Aber immerhin kann Kalika sich nicht in meine Gedanken »einschalten«, sonst brauchte sie meine Auskunft nicht. Ich wundere mich darüber; schließlich sind ihre Fähigkeiten ansonsten mehr als außergewöhnlich. »Sag ihr, daß ich mit ihr reden will.«
Ich erhasche Fetzen der leisen Unterhaltung, die folgt. Seymour bleibt am Hörer. »Sie sagt, daß du mir Name und Adresse des Krankenhauses nennen sollst.« Seymour zögert, und als er weiterspricht, klingt seine Stimme verzweifelt. »Du hättest sehen sollen, was sie mit Eric gemacht hat. Das, was du früher getan hast, waren Schulmädchenstreiche dagegen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, entgegne ich empört. »Sag ihr, daß ich ihr einen Gegenvorschlag mache. Ich werde ihr das Kind in genau vierundzwanzig Stunden bringen. Wir treffen uns am Ende des Santa Monica Piers um zehn Uhr morgen abend. Sag ihr, wenn sie dir auch nur ein Haar krümmt, wird sie dieses Baby nie zu Gesicht bekommen, und wenn sie um die halbe Welt reist.«
Seymour gibt mein Angebot weiter. Kalika scheint ihm geduldig zuzuhören. Dann legt sich etwas auf die Hörermuschel, und ich nehme an, daß meine Tochter mit Seymour spricht. Eine Minute verstreicht. Schließlich ist Seymour wieder am Apparat.
»Sie will wissen, warum du diese vierundzwanzig Stunden benötigst.«
»Weil das Baby einen Tag lang im Brutkasten bleiben muß. Sag ihr, daß das in Krankenhäusern normal ist.«
Seymour wiederholt alles. Diesmal wird der Hörer nicht abgedeckt, aber trotzdem höre ich nicht, was Kalika sagt. Ihre Stimme ist zu sanft. Ich bin dieses grauenvollen Spiels
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