Das Erbe des Alchimisten
ich es mit niemandem teilen. Diese Erlebnisse hatte ich während meiner ganzen Kindheit und Jugend. Sie bewirkten bei mir ein Gefühl… Es ist schwer zu erklären.«
»Wenn du in Ohnmacht fielst, fühltest du dich Gott nahe.«
»Ja, genau. Ich spürte die Gegenwart des Heiligen. Und als ich älter wurde, stellte ich fest, daß ich bei langen Gebeten oft in diesen Zustand der Trance fiel. Aber ich habe nie darum gebetet, daß es geschieht. Ich habe gebetet, weil ich beten wollte. Ich wollte an Gott denken, an Gott allein. Das war das einzige, was mir wirklich Ruhe und ein Gefühl der Zufriedenheit vermittelt hat.« Sie schaut mich an. »Hört sich das dumm an?«
»Nein. Ich denke auch oft an Gott. Erzähl weiter.«
»Jetzt wird die Geschichte richtig merkwürdig. Du mußt mir versprechen, daß du nicht über mich lachst.« Sie zögert, dann fährt sie fort: »Ich liebe die Wüste. Ich liebe es, ganz allein möglichst weit hineinzufahren. Besonders den JoshuaTree-Nationalpark, denn ich liebe diese uralten, riesigen Bäume. Sie stehen dort mitten im Nichts wie Wächter, die Arme hoch erhoben, voll unendlicher Geduld. Ich habe oft das Gefühl, daß sie uns irgendwie beschützen. Jedenfalls war ich auch vor neun Monaten dort, ganz allein. Es war zur Zeit des Sonnenuntergangs. Ich saß dort und schaute zu, wie die Sonne langsam unterging, und empfand tief die Schönheit um mich herum – die Farben, die von roten Schleiern durchzogenen Gebilde der Wolken, sanft und doch so beeindruckend. Es sah aus wie ein Regenbogen aus Sand und Sonne. Es war unglaublich ruhig. Ich war schon seit vielen Stunden dort, und bei Einbruch der Dunkelheit wollte ich mich auf den Rückweg in die Stadt machen. Doch als die Sonne langsam verschwand, vergaß ich ganz einfach die Zeit, wie es mir schon öfter passiert war.«
»Aber diesmal war es irgendwie anders?« frage ich.
»Ja. Ich hatte das Gefühl, nur einmal kurz geblinzelt zu haben – und plötzlich war um mich herum alles dunkel. Am Himmel aber funkelten Millionen von Sternen, so hell, so leuchtend. Ich hatte das Gefühl, selbst draußen im All zu sein, ganz nah bei ihnen. Es war fast, als befände ich mich in einer anderen Welt, inmitten eines riesigen Sternenhaufens, von dem aus ich den Nachthimmel ganz nah sehen konnte.«
»Und die ganze Zeit über warst du hellwach?«
»Ja. Ich war glücklich, aber ich nahm alles um mich herum weiterhin wahr. Ich konnte noch immer die großen Joshua-Bäume sehen.«
»Aber ein gewisser Zeitraum fehlt in deiner Erinnerung?«
»Ja. Und plötzlich geschah es. Während ich die Sterne am Firmament bewunderte, begann ein blauer Stern direkt über mir merkwürdig hell zu leuchten. Es war fast, als ob er sich näher auf die Erde zu bewegte, zu mir, und ich verspürte Furcht. Der Stern leuchtete so hell, daß sein Licht mich blendete, und ich mußte die Augen schließen. Trotzdem spürte ich weiterhin, daß er sich mir näherte. Ich vernahm seine Hitze und hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen.«
»Hattest du Schmerzen?«
Paula sucht nach den richtigen Worten. »Nein, so würde ich es nicht nennen, ich war nur irgendwie absolut überwältigt. Ein hoher Klang ertönte. Ich hatte die Augen geschlossen, aber ich konnte das Licht ja noch immer sehen und erkannte, daß es stärker und stärker wurde. Die Strahlen des Sterns durchdrangen förmlich meine Lider. Und das Geräusch wurde meinen Ohren immer unerträglicher. Ich wollte schreien, und vielleicht habe ich es auch getan. Aber ich glaube nicht, daß ich richtige körperliche Schmerzen hatte. Es war mehr, als ob ich irgendwie verwandelt würde.«
»Verwandelt? In was?«
»Ich weiß nicht. Aber das war eben der Eindruck, den ich damals hatte. Daß dieses Licht und die Hitze und dieser hohe Klang mich irgendwie verwandelten.«
»Was geschah dann?«
»Ich fiel in Ohnmacht.«
»Das war alles?«
»Nein. Das nächste, was ich wahrnahm, war, daß es Morgen war und ich auf dem Rücken lag und mir die Sonne ins Gesicht schien. Mein ganzer Körper schmerzte, und ich war unglaublich durstig. Die Teile meiner Haut, die nicht bedeckt gewesen waren, waren leicht gerötet, wie verbrannt.« Sie verstummt.
»Weiter!«
»Du wirst mir nicht glauben.«
»Wenn ich an dem, was du bisher erzählt hast, nicht zweifle, werde ich dir auch den Rest glauben. Sprich weiter!«
Paula schaut mich an. »Glaubst du mir wirklich?«
»Ja. Aber jetzt sag, was du sagen wolltest.«
»Die Joshua-Bäume um mich herum waren alle viel
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