Das Erbe des Blutes - Roman
bereits 1879 der Garant für die wöchentliche Berichterstattung über Morde und andere Sensationen.
Ron verschwand in den Tiefen des Archivs. Nigel ging zu seinem Platz und wartete. Dabei versuchte er, nicht jede Minute auf die Uhr zu sehen. Der Lesetisch würde überflüssig sein, denn die Bestellungen waren allesamt aus dem Material, das er am meisten fürchtete: Mikrofilm. Nigel hasste es, mit krummem Rücken auf schlecht beleuchteten und dick mit Staub überzogenen Bildschirmen endlose Bänder durchzusehen.
Als sie kamen, nahm er die Dosen mit in den Raum, in dem die Mikrofilmleser vor riesigen Maschinen mit Bildschirmen so groß wie Fernseher aus den 1950er Jahren saßen. Als Erstes legte er die Rolle mit der Times ein. In der Woche nach dem Mord war darin nichts erschienen. Nicht zum ersten Mal wunderte sich Nigel über die Geschwätzigkeit
der viktorianischen Presse. In einer Ausgabe stand ein Bericht über eine Parlamentsdebatte, der mehr als fünfzehntausend Worte umfasste, eng beschriebene Spalten ohne auflockernde Illustrationen oder Anzeigen. Wie jemand das lesen konnte, ohne dabei lebensmüde zu werden, überstieg seine Vorstellungskraft.
Erleichtert wandte er sich als Nächstes der News of the World zu. Das 1843 gegründete Skandalblatt etablierte sich schnell als Hauptquelle von Anrüchigem und wühlte in den Londoner Gerichten nach Geschichten über Mord und Ehebruch. Wenn Albert Becks Tod es nicht auf diese Seiten geschafft hatte, dann war es unwahrscheinlich, dass irgendwo anders darüber berichtet wurde. Auf dem Mikrofilm befanden sich sämtliche Ausgaben des Jahres 1879. Er wollte den Januar schnurstracks durchkurbeln, aber wie immer gelang es ihm nicht, sich von der Vergangenheit zu lösen. Beim gemächlichen Spulen durch die wöchentlichen Ausgaben fiel sein Blick auf wunderbare, aufrüttelnde, aber doch sachliche Überschriften: »Grauenhaftes Verbrechen nahe Bristol« und »Bedrohliches Verhalten der Nihilisten«. Auf der Titelseite jeder Ausgabe gab es eine Liste mit »Witzen der Woche«, aus anderen Publikationen zusammengetragen. Sie waren kein bisschen zum Lachen, es hatte vielmehr den Anschein, als stammten sie von einem anderen Planeten - dem war ja wohl auch so.
Er fand die erste Aprilausgabe. Dort wurde über den Zulukrieg und die Taten der Kelly-Bande in Australien berichtet. Gerade wollte er auf die nächste Seite weiterkurbeln, da entdeckte er unten eine Überschrift, die sein Herz stocken ließ.
KENSINGTON: DRITTER GRAUSAMER MORD
Die Story darunter lautete wie folgt:
Die Leichen der drei Männer lagen in Blutlachen, ein Dämon hatte sie mit einem scharfen Instrument geöffnet. Bis gestern um eins war North Kensington ahnungslos, sowohl was Motiv als auch die Identität des Ungeheuers anbelangt, dessen Taten in der Gemeinde erhebliche Angst auslösten. Das erste Opfer hieß Samuel Roebuck, ein Maurer aus Notting Dale, dessen verstümmelte Leiche man auf den Feldern in der Nähe seines Hauses fand. Der Mann wurde zuletzt am Montagabend, dem 24. März, im Pub gesehen. Ursprünglich glaubte die Polizei, die Tötung sei Folge einer Streiterei unter Betrunkenen gewesen. Doch am Samstagmorgen, dem 29. März, wurde Albert Beck, ein Gerber aus der nahe gelegenen Clarendon Road in North Kensington, dann von einem Passanten im Unterholz der St. John’s Church nahe dem Ladbroke Grove erstochen aufgefunden. Er hinterlässt eine Frau und zwei kleine Kinder in Armut. Das dritte Opfer hieß Leonard Childe, ein 38-jähriger Schmied aus der Harrow Road in North Kensington, der eine Frau und vier Kinder hinterlässt, die Älteste erst dreizehn. Entdeckt wurde er am Dienstag, dem 1. April, frühmorgens in der Nähe der Station Notting Hill. Die Polizei hat dazu aufgerufen, Ruhe zu bewahren, und verkündet, dass sie dem Unhold auf den Fersen sei, der diese niederträchtigen Taten begangen hat. Wer bei Verwandten oder Nachbarn Verdächtiges wie blutbefleckte Kleidung oder auffälliges Verhalten beobachtet hat,
wird inständig gebeten, bei der Polizeiwache in North Kensington vorstellig zu werden, um diese Informationen weiterzugeben.
Nigel beendete seine Lektüre, dann verließ er den Raum, ging die kleine Treppe nach unten und wählte dabei Fosters Nummer. Als er aus dem Gebäude trat, hörte er den Klingelton.
Foster ging gleich ran.
»Ich habe einen Bericht über den Mord an Albert Beck gefunden.«
»Was steht drin?«
»Der Killer hat dreimal zugeschlagen. Am Dienstag, dem 25.
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