Das Erbe des Blutes - Roman
Road. Er spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte, je mehr er sich dem Tatort näherte. Was er dort zu finden hoffte, wusste er nicht. Er ging zum Ladbroke Grove, an der U-Bahn-Station vorbei und folgte der gleichen Route wie am Vorabend. Heute waren weniger Leute unterwegs, aber er spürte die gleiche pulsierende Energie und Geschäftigkeit. Ihm kam das merkwürdig vor, denn die gesamte Gegend hätte eigentlich unter Schock stehen und trauern müssen.
Am Anfang der Gasse schob ein Polizist Wache. Hinter ihm konnte Nigel im Wind flatterndes Band erkennen. Der Tatort war immer noch abgesperrt. Man kam nicht durch. Er ging den Ladbroke Grove hoch, nahm die erste Abbiegung nach links in die Cambridge Gardens und bog dann abermals links in die St. Mark’s Road ein. Als er sich umdrehte, sah er, dass ein Polizeiauto den Eingang blockierte. Dahinter flatterte noch mehr Band. Nigel fühlte sich ein wenig erleichtert. Er war sich nicht sicher, wie er reagiert hätte, wenn er den Tatort hätte betreten können.
Er schaute sich um: Diese Gegend trug keinen Namen, sie lag eingebettet zwischen der oberhalb verlaufenden Autobahn und den Gleisen. Unterhalb des Westway beleuchtete eine Lampe im Halbdunkel drei Mülltonnen für Recyclebares, um eine davon lagen Glasscherben verstreut. Er beschloss umzukehren und wieder nach Hause zu gehen; vielleicht würde er unterwegs irgendwo ein Bier zur Stärkung trinken.
Er ging unter dem Westway und der U-Bahn-Linie hindurch. Über ihm ratterte ein Zug und brachte die ganze Konstruktion ins Wanken. Er überquerte die Straße, passierte einen neu errichteten Häuserblock - und hielt an.
Er lief ein paar Schritte zurück und las den Straßennamen noch einmal: Bartle Road. Es war keine richtige Straße; auf der einen Seite standen Bungalows aus beigen Ziegeln, auf der anderen gab es private Parkplätze, abgegrenzt von einer alten Steinmauer, die hinten an die Stützpfeiler der Bahn stieß, wo eine Autowerkstatt sich niedergelassen hatte. Nigels Herz schlug schneller. Hier war es also.
Er lief die Straße entlang und zählte die Häuser ab, sie sahen alle gleich aus. Nach Nummer 9 stoppte er: Zwischen diesem Haus und dem nächsten befand sich eine unangemessen große Lücke. Oberhalb der Mauer war, abgesehen von einem verzweigten Busch, nicht viel zu erkennen. Das nächste Haus nach der Lücke war Nummer 11. Dann stimmte es also, dachte er. Nummer 10 gibt es nicht. Als Rillington Place in den 1970er Jahren planiert wurde, benannte man die neu bebaute Straße in Bartle Road um. Offenbar hatten die Bauunternehmer beschlossen, dort eine Lücke zu lassen, wo eigentlich Nummer 10 stehen sollte.
Diese schäbigen Geschichten aus der Vergangenheit Londons faszinierten ihn. Dunkle Geheimnisse, die einen flüchtigen
Blick hinter die Fassaden der Stadt gewährten. In Rillington Place Nummer 10 wohnte John Christie, ein Massenmörder aus der Nachkriegszeit, der eine Reihe junger Frauen erwürgte, nachdem er sie in sein heruntergekommenes, verrußtes kleines viktorianisches Reihenhaus gelockt hatte. Er hatte sich an den leblosen Leichen vergangen, bevor er sie entweder im Garten verscharrte oder - wie bei den Resten seiner Ehefrau geschehen - in einem Schrank versteckte. Für seine Verbrechen wurde er gehängt, jedoch erst, nachdem Tom Evans, ein kaum des Lesens und Schreibens mächtiger Nachbar von Christie, irrtümlicherweise wegen des Mordes an dessen Frau und Kind hingerichtet worden war. Christie, der wahre Schuldige, trat als Hauptzeuge der Anklage bei Evans’ Prozess auf.
Nigel starrte auf die Lücke. Er war gekommen, um sich den Tatort eines Mordes noch einmal anzusehen, und dabei auf einen weiteren gestoßen. Knapp hundert Meter von diesem Ort des Schreckens entfernt wurde noch ein Killer in London zur Legende. Wenn man ihn schließlich stellen und vor Gericht bringen würde, planierten sie dann auch eines der Gebäude, in dem der Killer zugeschlagen hatte? Nigel wusste, dass diese Bemühungen vergebens bleiben würden. Die Vergangenheit kann nicht so einfach ausgelöscht werden, sie sickert aus dem Boden wie Blut durch Sand. Oder sie hängt in der Luft. Für immer.
Er zog sein vorsintflutliches Handy aus der Jackentasche und tippte Fosters Nummer.
Beim Anblick des verstümmelten Leichnams seiner Schwester zerbrach etwas in Simon Perry. Nachdem er genickt hatte, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich um seine Schwester handelte, versagten ihm die Beine den Dienst.
Foster führte
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