Das Erbe des Blutes - Roman
nicht und sah, dass ihr das nicht entgangen war.
»Sie sind sich nicht sicher, dass er es war, oder?«, fragte sie.
Foster zuckte mit den Schultern. »Wenigstens haben wir
einen Verdächtigen. Endlich .« Aber es stimmt, dachte er, sicher bin ich mir nicht. »Kommen Sie«, fügte er hinzu und ließ den Motor an. »Wie wär’s mit einem Kaffee? Wir brauchen alle Energie, die wir kriegen können, wenn wir im Hochhaus eine Wohnung nach der anderen abklappern wollen.«
19
Die Stunden waren wie im Flug vergangen. Einer der Angestellten streckte den Kopf zur Tür herein, um Nigel zu fragen, ob er noch etwas brauchte, und murmelte entschuldigend, dass das Archiv in einer halben Stunde schließen würde. Erst nachdem Nigel den Kopf mehrmals bewegt hatte, fand er wieder zurück in die Gegenwart und sah dann auf die Uhr. Er konnte es kaum glauben, aber es war tatsächlich genau halb fünf.
»Hat der Detective irgendwelche Vorkehrungen getroffen, damit ich noch länger bleiben kann?«
Der Angestellte schüttelte den Kopf.
»Dann kann ich das wohl nicht, wenn er das nicht arrangiert hat, oder?«
Dem stimmte sein Gegenüber zu.
Nigel fand sein Handy und rief Foster an. Er teilte ihm mit, dass das Archiv in einer halben Stunde schließen würde.
»Wie viel müssen Sie sich denn noch ansehen?«, lautete die Gegenfrage.
»Ich bin beim letzten Verhandlungstag. Sie sind kurz davor, das Urteil zu fällen, glaube ich.«
»Dann finden Sie das raus. Vielleicht dauert das ja nicht
so lange. Unter uns gesagt: Sie haben jemanden festgenommen.«
Wie Foster konnte auch Nigel sich nicht entscheiden, ob er nun himmelhoch jauchzen oder zu Tode betrübt sein sollte.
»Aber wir müssen trotzdem weiterbohren und ausgraben, was wir können«, fuhr Foster fort. Er hielt inne. »Ich bitte die einfach, dass man Sie länger bleiben lässt. Allerdings wird niemand da sein, um Ihnen was zu bringen. Sie müssen also mit dem vorliebnehmen, was Sie schon haben. Schicken Sie mir eine Kopie von allem Wichtigen, was Sie über den Prozess rausfinden. Aber machen Sie nicht die ganze Nacht durch oder so was in der Art. Kann gut sein, dass wir Sie morgen brauchen.«
Das ging für Nigel in Ordnung. Er wollte nur noch den Zeitungsbericht zu Ende lesen. Jetzt die Bibliothek zu verlassen, wenn auch nur über Nacht, war undenkbar.
Der Prozess hatte nur drei Tage gedauert: zwei für den Kronanwalt, um die Verhandlung zu eröffnen und die Anklage zu verlesen, einen halben für die Verteidigung - da es Angeklagten nicht erlaubt war, für sich selbst auszusagen - und einen weiteren halben Tag für die Zusammenfassung des Richters. Während über die ersten beiden Tage in den zwei Zeitungen, auf die Nigel sich stützte, ausführlich berichtet worden war, sah das beim dritten Tag anders aus. Die Verteidigung brachte nicht viel mehr zustande als eine halbherzige Unschuldsbeteuerung seitens des Anwalts und eines ehemaligen Arbeitgebers des Angeklagten, der aussagte, er habe einen schlichten, aber guten Charakter. Dafür hatte man nur wenige Absätze übrig. Demgegenüber standen ellenlange Zeugenaussagen der Anklage, denen zufolge der Beschuldigte gewalttätig und ständig betrunken war. Wenn
man der Zeitung Glauben schenkte, konnte es nur ein Urteil geben.
Am Abend des dritten Tages zogen die Geschworenen sich zurück und fällten das Urteil innerhalb von zwanzig Minuten. Der Richter hatte sicherlich im Blick, dass der Redaktionsschluss für die nächste Zeitungsausgabe bereits verstrichen war, denn er vertagte die Sitzung auf den nächsten Morgen. Nigel fragte sich, wie der Angeklagte die Nacht verbracht haben mochte: in Todesangst.
Am nächsten Morgen wimmelte der Gerichtssaal von Menschen.Von den beiden anwesenden Reportern vermittelte der wie berauscht wirkende, leicht erregbare Vertreter der News of the World die fast schon unerträgliche Spannung der folgenden Ereignisse am besten.
Alle Augen waren auf die Anklagebank gerichtet. Scheinbar eine Ewigkeit lang geschah nichts, bis das Geräusch einer sich unten öffnenden Tür und schlurfende Schritte auf der Holztreppe darauf hindeuteten, dass Fairbairn seinem Schicksal entgegenschritt. Ein Raunen ging durch die Menge, als der Gefangene von den Tribünen aus sichtbar wurde. Zum ersten Mal bei diesem Prozess blieben Rufe und Tiraden aus. Es herrschte vollkommene Stille. Wie immer starrte er auf seine Füße, nur einmal hob Fairbairn den Kopf und blickte zu den Reportern, die auf der Pressetribüne saßen.
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