Das Erbe des Blutes - Roman
das die News of the World für wichtig genug erachtete, um es bei jedem Lagebericht über die Ermittlungsarbeit aufs Tapet zu bringen.
Am 5. Mai stand Fairbairn, der nun fast überall als »Der Riese« bekannt war, im Old Bailey vor Gericht. Er ging federnden Schrittes zur Anklagebank und starrte fast das gesamte Verfahren hindurch nur auf den Boden. »Nicht ein einziges Mal wandte er den hasserfüllten Blick von seinen Schuhen«, notierte der Reporter von der Times . »Noch nicht einmal, als er aufgerufen oder sein schicksalhaftes ›Nicht schuldig‹ protokolliert wurde.«
Am 19. Mai, also zwei Wochen später - die Mühlen der Justiz mahlten im 19. Jahrhundert gar nicht so langsam -, begann das Verfahren. Im Gericht wimmelte es vor Menschen, die besten Plätze hatten Mitglieder der Oberschicht gekauft, die auf Unterschichtennervenkitzel aus waren. Als Fairbairn seinen Platz einnahm, ging ein Raunen durch den Gerichtssaal und durchbrach die erwartungsvolle Stille. Da diese Gerichtsverhandlung das Pendant zu einer Premiere war, trugen die reichen Frauen auf ihren Logenplätzen ihre besten Kleider, inklusive Hut und allem, was dazugehörte. Ein Reporter wies auf das Rascheln hin, als eine Dame nach der anderen ihren Fächer zückte, um sich Luft zuzufächeln: »Das Gedränge in dem ehrwürdigen Gerichtssaal war derart groß, dass das Luftholen zu einer Belastung wurde.« Derselbe Reporter bemerkte die sowohl angewiderten als auch bewundernden Blicke, die sich auf den Angeklagten richteten.
Auf den billigen Plätzen war man weniger zurückhaltend. Rufe wie »Hängt den Bastard« und »Lasst ihn baumeln« führten dazu, dass wenigstens vier Männer vor die Tür gesetzt wurden. Diese Szene bezeichnete jemand von der Times als ein »unwürdiges Theater«. Die ganze Zeit über hob Fairbairn kein einziges Mal den Blick. Im Gegensatz zu dem riesenhaften Mann, der zur Vernehmung erschienen war, erweckte er jetzt den Eindruck, körperlich verändert zu sein. Die Schultern hingen herab, er hatte abgenommen, zuckte zusammen, sobald er sich bewegte, und ein Arm hing leblos an seiner Seite. »Noch nie musste sich eine erbärmlicher aussehende Kreatur wegen einer derart schwerwiegenden Anklage verantworten«, befand die Times .
Mit Interesse nahm Nigel zur Kenntnis, dass Fairbairn nur wegen zwei der fünf Morde in Kensington angeklagt
wurde, vermutlich aus Mangel an Beweisen. Er vermerkte dies in seinem Notizbuch, da es sich möglicherweise um etwas handelte, was es später weiterzuverfolgen galt. Verantworten musste er sich wegen des ersten und des dritten Mordes, die kaum mehr als eine Woche auseinanderlagen.
Der Vertreter der Anklage war Mr. John J. Dart, Kronanwalt und MP, der sich, gemäß dem in einer der Zeitungen abgedruckten Protokoll, nicht die Chance entgehen lassen wollte, die ihm ein solches Forum bot. Das Äußere des Kronanwalts wurde nicht beschrieben, aber Nigel stellte ihn sich als einen beleibten Politiker mit gerötetem Gesicht unterhalb der weißen Perücke vor, während er sich auf der Bühne des überfüllten Gerichtsgebäudes aufplusterte. Er begann mit der Bitte an die Jury, alles über den Fall Gedruckte zu vergessen, da er auf der Grundlage der bekannten Fakten entschieden würde.
Hier drehte Dart sich um, hob langsam den Finger und richtete ihn auf den Angeklagten. Die Times hielt fest, wie im Gerichtssaal alle Augen dem Finger folgten.
Es ist die Überzeugung der Krone, dass Eke Fairbairn, der Mann, der dort steht, Samuel Roebuck und Leonard Childe mit bösem Vorsatz und kaltblütig ermordet hat.
Dart behielt die Pose bei, damit seine Geste und das Gesagte im Publikum wirken konnten. Wieder ertönte von der Besuchertribüne der Ruf »Lasst ihn baumeln!«, gefolgt von einer kurzen Unterbrechung des Prozesses, weil der Richter zur Ordnung rief. Als sie wieder zusammentraten, umriss Dart die Anklage.
Am Abend des 24. März war Mr. Roebuck wie gewohnt auf der Suche nach einer Erfrischung in der Clarendon Gastwirtschaft in der gleichnamigen Straße. Zeugen zufolge hatte Mr. Roebuck
in den Abendstunden eine beachtliche Menge Porter zu sich genommen. Er war berufstätig, und das Ende der Arbeitswoche stand vor der Tür. Es ist nicht an uns hier, über sein Betragen zu richten. Nein, Mr. Roebuck ist vor unseren Schöpfer getreten, und eine höhere Instanz hat bereits ein Urteil gefällt. Spätabends beschrieb man ihn als angeheitert, indes nicht als volltrunken. Sie werden hören, wie Roebuck aus
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