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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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lang hatte er bereut, was er getan hatte. Er hatte sich geschämt, und er hatte versucht, seine Taten zu sühnen, so gut es ging, aber hier an diesem Ort fühlte er die Schuld erneut glühend heiß in sich aufsteigen.
    Die Erinnerungen und die Angst vor dem, was nun kommen würde, schnürten ihm die Kehle zu.
    »Warum . . . warum sind wir hier?«, fragte er mit zitternder Stimme. Er schluckte seine Tränen, war aber nahe daran, seine Selbstbeherrschung zu verlieren.
    Keine Antwort. Zwischen den Betonplatten auf dem Gelände wuchsen Gräser und kleine Bäume. Neben einer Schranke hing ein schmutziges Schild: LEBENSGEFAHR! BETRETEN UND BEFAHREN VERBOTEN! BUNDESVERMÖGENSAMT POTSDAM.
    Die Warnung musste etwas mit den Sprengstoff- und Munitionsversuchen zu tun haben, die auf dem Gelände über Jahrzehnte hinweg durchgeführt worden waren. Jemand hatte das Verbot jedoch schon gebrochen, denn die Schranke war mit Gewalt geöffnet worden. Sie nahmen die Zufahrt, fuhren durch Gestrüpp und schließlich an einer Backsteinmauer entlang auf einen Hof, an dessen Rand das Gerippe einer Häuserruine stand. Rolf blickte auf die noch stehenden Wände, hinter denen die inzwischen riesige Eiche wuchs. Hier, ganz in der Nähe, hatten sie |196| damals den Versuchsreaktor im Wald errichtet. Von hier war Rolf das letzte Mal am Ende des Sommers 1944 weggegangen, als die Versuchsanstalt nach Stadtilm evakuiert worden war.
    Das Auto hielt so abrupt zwischen den Pfützen auf dem Hof, dass Rolfs Kopf gegen den Vordersitz prallte.
    Einen Moment war es still.
    »Sie können gehen«, sagte der Fahrer.
    Rolf war verblüfft, wartete aber keine weitere Aufforderung ab, sondern tastete mit zitternder Hand nach dem Türgriff. Schwerfällig stieg er aus und warf die Tür wieder zu.
    Das Auto blieb stehen. Rolf zögerte. Wieso ließen sie ihn laufen? Ihn, der alles wusste . . . Die Worte des narbengesichtigen S S-Offiziers auf dem Friedhof kamen ihm in den Sinn:
Es tut mir leid, aber Sie müssen sich jetzt dort hinter die Kapelle begeben
. . .
    Rolf blieb nicht länger stehen, sondern ging auf die Ruine zu. In seinem Inneren wechselten sich Wogen der Hoffnung mit bösen Vorahnungen ab.
    Er ging immer schneller und schaute sich kurz um. Der Wagen mit den Männern stand noch immer da. Doch seltsam: keiner der beiden hatte ein Waffe auf Rolf gerichtet.
    Allmählich wuchs seine Hoffnung. Er zwang seine steifen Beine, nicht langsamer zu werden. Er erinnerte sich daran, wie er damals leichten Schritts die Urandioxydplatten vom Lastwagen geladen und genau über diesen Hof getragen hatte. Für einen Moment sah er durch die Tränen hindurch die Ruine als unversehrtes Gebäude, er sah die stabilen Backsteinwände, die frisch gestrichene Doppeltür, das geschäftige Hin und Her und die Begeisterung, die sie alle erfüllte, als Doktor Mayer von neuen Fortschritten berichtete . . .
    Plötzlich hörte Rolf das Auto hinter sich anfahren. Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht und versuchte, seine Schritte noch weiter zu beschleunigen, obwohl er schon jetzt ganz außer Atem war, aber auf dem unebenen Gelände geriet er ins Stolpern.
    |197| Er beschloss, bei der Ruine abzuwarten, bis das Auto und die Männer verschwunden waren, und dann zur Landstraße zu gehen und sich eine Mitfahrgelegenheit zu suchen. Ein alter Mann hätte vielleicht eine Chance, dass jemand ihn mitnähme.
    Auf einmal hatte er das Gefühl, das Auto sei plötzlich viel näher. Er sah sich erschrocken um, und tatsächlich: der Wagen kam direkt auf ihn zu. Er begann zu laufen, so gut er konnte, aber das Auto legte permanent an Geschwindigkeit zu.
    Natürlich.
    Rolf blieb stehen und sah, wie das Auto sich immer rascher auf ihn zubewegte. Er keuchte vor Entsetzen. Aber je näher es kam, umso mehr wich sein Entsetzen. Plötzlich stand an der Stelle der Ruine wieder das unversehrte Gebäude neben ihm, und die roten Ziegelsteine leuchteten in der Sonne. Rolf war ein Mann von fünfundzwanzig Jahren, er trug kein Hemd, er hielt eine Flasche mit schwerem Wasser in der Hand, seine Arme glänzten vor Schweiß, das Herz pochte, in Gedanken war er bei seiner Doktorarbeit und bei Ingrid . . . Rolfs Blick war auf die Stoßstange des Autos gerichtet, seine Arme hingen schlaff herab, doch er zitterte nicht. Zwei Meter noch . . . Er richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Blitzlichtartig sah er, wie sich die Fehler und die Errungenschaften seines Lebens mit größeren historischen

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