Das Erbe des Bösen
die anderen Berliner hinzulaufen.
An vielen Luftschutzkellern schlossen sich bereits die Türen. Für diejenigen, die auf dem Weg zur Arbeit vom Alarm überrascht worden waren, wurde es schwierig, noch irgendwo unterzukommen. Ingrid stolperte und schlitterte mit allen anderen über die eisglatten Bürgersteige. Es war mindestens zehn Grad unter Null, und die kalte Luft stach Ingrid bereits in der Lunge, als an der nächsten Straßenecke ein höchstens fünfzehnjähriger »Volkssturm«-Knabe den Leuten zurief: »Los, in den Keller! Schnell!«
Ingrid schob sich in dem Gedränge auf die Betonrampe und von dort auf die enge Kellertreppe und dachte wieder voller Dankbarkeit an Professor von Verschuer, der persönlich dafür gesorgt hatte, dass sie als Ausländerin aus Schweden nicht den Buchstaben »S« auf ihre Kleider nähen musste. Ebenso hatte Doktor Mayer Rolf davor bewahrt, den Buchstaben »F« tragen zu müssen. Derart als »Fremdarbeiter« gekennzeichnet, hätten sie keine Chance gehabt, mit Deutschen zusammen in einen Luftschutzkeller zu gelangen. Am schlimmsten dran waren die mit »P«, »R« und »U« gekennzeichneten polnischen, russischen und ukrainischen »Ostarbeiter«. Kein alter Mann oder junger Bursche vom »Volkssturm« hätte sie je zusammen mit Ariern in Sicherheit gebracht.
Die Treppe führte immer weiter nach unten, und unmittelbar bevor die Tür sich schloss, glaubte Ingrid das gierige Kläffen der Luftabwehrbatterien rund um die Stadt zu hören. Die Armada der amerikanischen Bomber hatte also schon mindestens Spandau |222| erreicht, vielleicht sogar Charlottenburg. Bald würden sie direkt über ihnen sein.
Der Luftschutzkeller war der größte, den sie je gesehen hatte, aber dennoch war er hoffnungslos überfüllt. Höfliche und zumeist ordentlich gekleidete Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit gewesen waren, boten ruhig den alten Leuten, den Invaliden und schwangeren Frauen die wenigen Sitzplätze an den Wänden an.
Die Beleuchtung war nicht nennenswert, aber die Decke war mit phosphoreszierender Farbe gestrichen, wodurch man einigermaßen sehen konnte. Das Dröhnen der Flugzeuge und die dumpfen Detonationen setzten etwa um 7 Uhr 55 ein. Der Keller bot absoluten Schutz, aber Ingrid musste wie immer an die schlimmste aller Möglichkeiten denken. Ein Volltreffer auf das Haus über ihnen konnte die Mauern zum Einstürzen bringen und die Stahltüren des Luftschutzkellers verschütten. Und bis man die Trümmer abgetragen hätte, wären sie alle längst erstickt. Man erzählte sich, dass so etwas vorgekommen war, auch in Berlin. Außerdem sorgte sie sich um Rolf, selbst wenn sie glaubte, dass er in Sicherheit war.
Eine Dreiviertelstunde später kreisten noch immer Bomber über Berlin. Die meisten Menschen hatten sich inzwischen auf den kalten Betonboden gesetzt. Die ersten Kerzen wurden auf dem Boden angezündet, um die vorhandene Sauerstoffmenge zu messen.
Immer öfter blickte Ingrid auf die Uhr: 9 Uhr 25. Schon anderthalb Stunden, und das Dröhnen hörte und hörte nicht auf. Noch waren alle ruhig. Hier und da unterhielten sich einige Leute gedämpft. Allerdings begannen die ersten Kerzenflammen bereits zu flackern, einige waren auch schon erloschen. Jetzt stellte man Kerzen auf Stühle und Bänke. Noch reichte der Sauerstoff, aber wie lange? Immerhin war hier eine gewaltige Menschenmenge auf engstem Raum zusammengepfercht.
Um fünf nach zehn standen alle, und die Kerzen wurden auf Höhe der Gesichter gehalten. Weinende Kleinkinder nahm man |223| auf den Arm oder stellte sie auf Bänke. Alte und Kranke mussten beim Stehen gestützt werden. Eine Frau in Ingrids Nähe murmelte ein Gebet. »Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme, Dein Wille geschehe . . .« Ingrid war unzählige Male zuvor im Luftschutzkeller gewesen, aber stets in der Nähe ihrer Wohnung oder des Instituts. Noch nie im Zentrum, noch nie so lange und noch nie mit so vielen anderen. 10 Uhr 20. Auch die letzten Flammen flackerten kurz, bevor sie erloschen. Aus mehreren Richtungen stank es inzwischen unangenehm. Kleinkinder und vielleicht auch ein paar Alte in schlechter Verfassung hatten sich in die Hosen gemacht. Die Toiletten waren längst verstopft und verströmten einen unerträglichen Gestank . . . Schließlich ging auch die Kerze in der Hand der kleinen, alten Frau neben Ingrid aus.
Nun gib schon den Befehl,
flehte sie innerlich.
Es ist höchste Zeit!
Offenbar hatten nun auch
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