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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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verrechnen, so wie viele andere Länder auf der Welt. Besteht der Sinn unseres Treffens denn nicht in der Absicht zu klären, wie man in Finnland eine Kernwaffe zustande bringen könnte?«
    »Es geht hier wohl eher darum, die theoretischen Möglichkeiten zu eruieren«, sagte der Vorsitzende gequält.
    Der Oberst nahm die technischen Angaben, die von den Erpressern über ihre Rakete übermittelt worden waren, zur Hand. »Damit kommen wir schon ziemlich weit. Das Problem liegt eher beim Atomsprengkopf. Was sagst du dazu?«
    »Die Herstellung eines Atomsprengkopfs ist kein technisches, sondern ein rein politisches Problem. Ingenieure, die über das nötige Fachwissen verfügen, haben wir genug.«
     
    Ingrid saß im Sessel und hielt ein Foto in der Hand. Aus den Lautsprechern kam Verdis ›Macbeth‹, eine Aufnahme von 1952 in der Scala, die später digitalisiert wurde. Die Callas sang ganz hell über ein leichtes Rauschen hinweg.
    Auf dem Foto stand Ingrid neben Rolf am Wannsee. Hans hatte das Bild im Juni 1939 gemacht. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto, aber Ingrid sah es in Farbe: das strahlende Blau des Wassers und des Himmels, das zarte Grün der Linden, ihr neues weinrotes Kleid, Rolfs abgetragener grauer Anzug.
    Rolf . . .
    Die anderen Fotos, die sie herausgenommen hatte, stammten aus den ersten Jahren in Amerika. Sie waren nach ihrer Scheidung aus dem gemeinsamen Album entfernt worden, und Ingrid hatte sie nicht in ein neues einkleben wollen. Lange hatte sie durch nichts an die Scheidung erinnert werden mögen – sie war eine der größten persönlichen Niederlagen ihres Lebens, auch wenn vor allem ihr Vater Rolf immer wieder schlechtgemacht hatte und die Scheidung seiner Tochter für ihn eine große Befriedigung darstellte.
    Ingrid hatte Rolfs scharfen Verstand immer bewundert, ja sie hatte ihn darum beneidet. Das breite Feld der Atomphysik war |220| ihr zunächst fremd, doch Rolf hatte sie hartnäckig damit vertraut gemacht, und sie hatte begonnen, sich mit den biologischen Auswirkungen von radioaktiver Strahlung zu beschäftigen. Die Fotografien verschwammen hinter ihren Tränen. Sie trauerte mehr um Rolf, als sie es für möglich gehalten hätte. Mehr als sie wollte . . . Trotz allem.
    Oder war es gar nicht Rolfs Tod, der ihr die Tränen in die Augen trieb? War es vielleicht eher etwas, das ihr durch Rolfs Tod noch mal stärker ins Bewusstsein gebracht worden war: ihr unweigerlich bevorstehender eigener Tod?
    Ingrid betrachtete die auf dem Foto posierende selbstbewusste, junge, schöne und intelligente Frau. So war sie gewesen. Als die Aufnahme gemacht worden war, hatte sie noch kein einziges Mal an die Endlichkeit des Lebens gedacht. Dann kam der dritte Februar 1945 und sie hatte dem Tod zum ersten Mal in die Augen geschaut. An jenen Tag würde sie sich bis ans Ende ihres Lebens erinnern, und auch jetzt drängte er sich mit ungeheuerlicher Macht in ihre Gedanken.
    Sie ahnte schon, dass sie womöglich den fatalsten Fehler ihres Lebens beging, als sie die Straßenbahn nahm, die direkt von ihr zu Hause nach Dahlem fuhr. Normalerweise fuhr sie wegen der Bombenangriffe immer auf einem Umweg zur Arbeit, mit zwei oder drei verschiedenen Straßenbahn- und U-Bahn -Linien möglichst weit um das Stadtzentrum herum, aber an diesem Tag war sie schon spät dran. Rolf lag seit Tagen mit Grippe im Bett, und sie hatte für eine Weile das Zeitgefühl verloren, als sie darüber nachdachte, wie Rolf den langen Tag wohl ohne sie überstehen würde.
    Erst eine Viertelstunde zuvor hatte Ingrid das Haus verlassen, aber die überfüllte Straßenbahn war schon ein ganzes Stück gefahren, als um 7   Uhr 39 der Fliegeralarm einsetzte. Die ersten amerikanischen B-1 7-Bomber , jene berüchtigten »fliegenden Festungen«, würden in fünfzehn Minuten über Berlin sein. Es blieb also keine Zeit mehr, nach Hause zurückzukehren. Rolf würde es trotz des Fiebers wahrscheinlich innerhalb weniger Minuten in den Luftschutzkeller im Nachbarhaus schaffen.
    |221| Ingrid war da in einer schwierigeren Lage: Die beiden nächstgelegenen Luftschutzkeller, an die sie sich noch vom November her erinnerte, waren unter riesigen Trümmerhaufen verschüttet. Im Laufschritt eilte sie mit den aus Straßenbahnen und Häusern strömenden Menschen in Richtung Invalidenstraße und Lehrter Bahnhof. Bei einem Bombenangriff war es eigentlich unvernünftig, ausgerechnet ins Stadtzentrum zu flüchten, wo sich Reichstag und Reichskanzlei befanden, aber dort schienen auch

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