Das Erbe des Greifen
beten. Er warf sich schützend über das Kind! Seht, sein Unterarm ist zersplittert, und hier und dort … das stammt von Schwerthieben. Der letzte Streich ging durch ihn hindurch und traf auch das Kind unter ihm …«
Fassungslos schüttelte er den Kopf.
»Wie kann man nur in einem Tempel morden? Wie kaltherzig muss man sein, um Blut an einem solchen Ort zu vergießen?«
Elyra sagte einen Moment lang nichts, dann richtete sie sich kerzengerade auf und trat auf die oberste Treppenstufe, um sich dem Sergeanten Delos und seinen Männern zuzuwenden, die durch den Eingang zu ihnen hereinschauten.
»Tretet ein in das Haus unserer Göttin. Erweist Ihr Ehrfurcht und Dankbarkeit dafür, dass Sie uns die Tore zu Ihrem Haus geöffnet hat. Und dann … dann tragt diese armen Leute hinaus. Behandelt sie mit Respekt und legt sie an den Rand des Weges. Achtet darauf, dass die Überreste eines jeden Opfers zusammenbleiben, damit wir sie in Ehren bestatten können. Die Überreste der Mörder aber werft in die Erdspalte … sie haben kein Grab verdient!«
Delos nickte und führte das Zeichen des Sterns aus. Er sah an Elyra vorbei und ließ seinen Blick über die Spuren dieser vergangenen Untat gleiten. »Also ist es wahr. Die Priesterinnen wurden erschlagen, und die Göttin verhängte Ihr Strafgericht«, stellte er ehrfürchtig fest. »Dürfen wir denn überhaupt …«
»Habt keine Furcht. Sie hat uns vergeben. Ihre Gnade erlaubte uns, die Stadt von der Verderbnis zu befreien, der Fluch ist von uns genommen. Ihr Haus steht jedem, der glauben will, offen.« Elyras Stimme wurde härter. »Aber ich will, dass der Tempel gereinigt wird von den Spuren dieser Schandtat!«
Delos zupfte sich an seiner Locke und verbeugte sich tief, dann traten er und seine Leute andächtig ein. Sogleich begannen sie, die sterblichen Überreste zu sortieren, um die Gebeine dann hinauszutragen.
Unterdessen drangen Elyra, Astrak und Lenise mit ihrem Schreckenswolf in die große Halle des Tempels vor. Über drei Stockwerke erstreckten sich an ihren Wänden die Schlaf- und Arbeitsräume der Priesterinnen, die über weit geschwungene Treppen zwischen den Galerien zu erreichen waren. Überall waren die Spuren des Gemetzels zu erkennen, es mussten Dutzende gewesen sein, die man hier abgeschlachtet hatte. Nicht alle Opfer trugen die Reste gewöhnlicher Kleidung, viele waren nur in leichte Nachtgewänder gehüllt.
»Sie haben den Tempel in der Nacht überfallen«, stellte Astrak betroffen fest. Trok, Lenises Schreckenswolf, winselte leise. Er lief geduckt und mit eingekniffenem Schwanz neben ihnen her, und immer wieder hob er die Nase und witterte. Es sah aus, als ob das Ungeheuer nicht weniger trauern würde als sie selbst.
»Spürt er, was hier geschehen ist?«, fragte Astrak leise Lenise, während Elyra voller Ehrfurcht vor den goldenen Altar trat. Dort lagen die sterblichen Überreste einer Frau, gehüllt in eine Robe ähnlich der Elyras und mit dem schweren Symbol des Sterns auf der zerfallenen Brust, ein Schwertstreich hatte es beschädigt.
»Er fühlt und denkt das Gleiche wie wir und trauert um die Toten«, teilte Lenise Astrak mit und sah ihn dabei leicht überrascht an.
»Wie ist das möglich?«, fragte Astrak.
»Habt Ihr es noch nicht verstanden?« entgegnete sie leise. »Er ist einer von uns. In seiner Brust schlägt ein menschliches Herz, sein Geist, sein Intellekt, sein Wesen entsprechen den unseren, er ist nicht weniger Mensch als du.«
Trok musterte Astrak und zwinkerte ihm mit seinem blauen Auge zu. Dann sah er zu Lenise hoch, die kurz darauf leise zu lachen begann.
»Ich soll Euch von ihm sagen, dass die Erscheinung nichts über das Wesen eines Geschöpfes sagt. Hässlichkeit…«
»Hässlich ist er nicht!«, unterbrach Astrak sie. »Er ist mir etwas fremd, aber auf seine Art perfekt gelungen!«
Trok sah erneut zu Lenise hoch, die nun laut auflachte, das erste befreiende Lachen an diesem Ort nach so vielen Jahrhunderten.
»Er sagt, seine Gestalt habe auch ihre Nachteile.«
»Und welche?«
»Mit Pfoten lassen sich die Seiten von Büchern nur schwer umblättern!«
»Astrak, bitte hilf mir mal!«, rief in dem Moment Elyra, die hinter den Altar getreten war.
»Ich komme!«, erwiderte er, und mit einem entschuldigenden Blick zu Lenise und Trok eilte er zu ihr hinüber.
Elyra stand vor einer Treppe, die hinabführte zu einer goldverzierten Tür unter dem Altar. Wie das Eingangstor besaß auch diese Tür eine Aussparung für das
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