Das Erbe des Greifen
Die Entscheidung ist immer die gleiche, im Kleinen wie im Großen.« Er suchte ihren Blick. »Wir sind gewiss keine Kinder mehr, Sera. Und wenn sich im Depot etwas findet, das uns hilft, ohne uns unbesiegbar zu machen, müsstet Ihr nicht uns entscheiden lassen, wie wir damit umgehen wollen? Ihr, Barius und die anderen, ihr seid die letzten verbliebenen Hüter. Wollt ihr uns das Erbe vorenthalten oder uns beibringen, vernünftig und gewissenhaft damit umzugehen?« Er schmunzelte. »Vielleicht könnt Ihr uns ja lehren, wie man es schafft, nicht von Beliors Stein getroffen zu werden?«
Meliande sah ihn überrascht an, dann lachte sie. »Geschlagen mit den eigenen Waffen. Meister Hernul, ich muss mich mit Barius beraten. Es ist eine schwerwiegende Entscheidung. Zu viel steht auf dem Spiel. Aber vielleicht habt Ihr Recht. Es wird gewiss Dinge geben, die Euch nützen, ohne dass es die Welt aus den Angeln hebt. Jetzt weiß ich wenigstens, woher Tarlon seine Geistesschärfe hat.«
»Nicht von mir, das ist gewiss«, lächelte Hernul etwas wehmütig. »Das verdankt er seiner Mutter.«
»Schade, dass ich sie nie kennen lernte«, sagte Meliande sanft. »Aber was führt Euch überhaupt zu mir?«
»Vielleicht wollte ich nur Eure Gesellschaft genießen.«
»Danke«, sagte sie lächelnd. »Aber das ist nicht der einzige Grund, habe ich Recht?«
»In der Tat. Meister Pulver bat mich, ein paar Fragen mit Euch zu besprechen.«
»Meister Pulver«, wiederholte die Sera nachdenklich. »Habt Ihr nun alle Eure Antworten?«
»Nein.« Hernuls Blick blieb auf ihre Augen geheftet, als er weitersprach. »Eine Frage habe ich noch nicht gestellt.«
»Dann stellt sie nun.«
Hernul griff in eine Tasche seiner Weste und zog eine große goldene Münze daraus hervor. In der späten Nachmittagssonne funkelte und glänzte sie, als sei sie frisch geprägt.
»Habt Ihr diesen Mann schon einmal gesehen?«, fragte er und hielt die Münze so, dass sein Gegenüber die Prägung sehen konnte. Sie zeigte einen Mann mit schmalem Gesicht, gerader Nase und hoher Stirn.
Die Hüterin zog die Luft ein.
»Das kann nicht sein«, hauchte sie.
»Das ist der Regent von Thyrmantor«, erklärte Hernul.
»Wir fanden diese Münze bei den Sachen des Magiers, der damals im Gasthof das Feuer auf uns herabsandte.« Er griff erneut in die Tasche und entnahm ihr eine weitere Münze, die er in Meliandes Hand legte. »Und diese hier fand Pulver bei dem Goldschatz dort im Keller.«
Sie sah auf die Münze herab und erblickte ihr eigenes in Gold geprägtes Porträt. Langsam drehte sie die Münze mit dem Finger herum. Auf der anderen Seite war das Porträt Beliors zu sehen, jünger zwar, aber unverkennbar der gleiche Mann wie auf der Münze aus Thyrmantor.
»Pulver meinte, dies sei eine Gedenkmünze gewesen, geprägt zu Ehren der Zwillinge, der Erben des Greifen, an ihrem sechzehnten Geburtstag. Sie zeigt Prinzessin Meliande und Prinz Belior von Lytar.«
Meliande wurde bleich. »Wie lange wisst Ihr schon davon?«
Hernul sah sie an und zuckte die Schultern. »Ich weiß es seit vorgestern. Pulver weihte mich ein, bevor ich aufbrach. Er hingegen wusste es schon von dem Moment an, in dem er Euch das erste Mal sah. Damals sagte er, wenn er die Aufgabe hätte, die Krone weiterzugeben, dann würde er jemand wählen, der sie nicht will.«
»Ich will die Krone nicht«, flüsterte sie.
»Ja«, sagte Meister Hernul. »Genau das meinte er wohl damit. Eines soll ich Euch noch ausrichten.«
»Und was wäre das?«, fragte sie leise.
»Ihr seid eingeladen, dem Rat der Ältesten beizutreten.« Hernul lachte leise. »Pulver besteht sogar darauf.«
Er verbeugte sich vor ihr. »Nun entschuldigt mich, ich werde jetzt diesen alten Gasthof aufsuchen und nachsehen, ob noch etwas von dem Eintopf übrig ist. Die Göttin mit Euch, Sera.«
»Und auch mit Euch, Meister Hernul«, antwortete Meliande und sah Tarions Vater nach, der sich zwischen den Steinen hindurch vorsichtig einen Weg hinunter zum Gasthof suchte.
Dann sah sie wieder auf die Münze in ihrer Hand. »Verflucht sollst du sein«, flüsterte sie. »Wie ist es nur möglich? Welche Gier lebt in dir, dass du selbst dem Tod entrinnen konntest? Doch diesmal, Bruder, werde ich keinen Augenblick zögern, dich zu erschlagen! Göttin!«, rief sie und ballte die Hand mit der Münze darin zur Faust, um sie dann verzweifelt gen Himmel zu recken. »Wie konntest du zulassen, dass ER deinem Strafgericht entkam? Wie konntest du das nur
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