Das Erbe des Greifen

»Ich weiß nicht, wie er es macht«, bekannte sie dann leise. »Er braucht nur zu jemandem hinzugehen und ihn anzusprechen, und bald denkt man, er und seine neue Bekanntschaft wären seit Jahren die besten Freunde.«
    Tarlon, der entspannt mit geschlossenen Augen und über dem Bauch verschränkten Händen dasaß, öffnete ein Auge und sah seine Schwester an.
    »Er ist immer gut gelaunt. Das mögen die Leute.« »Und er sieht gut aus«, ergänzte Vanessa, worauf die Bardin erheitert auflachte.
    »Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Tarlon mit einem Schmunzeln, bevor er die Augen wieder schloss.
     
    »Euer Bier ist gut«, lobte Garret lächelnd und legte dem Wirt vier Kupfer auf die Theke. »Noch eine Runde für mich und meine Freunde.«
    »Danke, Ser«, erwiderte der Wirt und musterte den schlaksigen jungen Mann genauer. »Seid Ihr neu in der Stadt?«
    »In der Tat«, antwortete Garret offenherzig. »Heute erst angekommen. Da fällt mir ein, die Torwache sprach von irgendwelchen Marken, die man bekommt, wenn man länger bleiben will, habt Ihr solche Marken?«
    »Hier«, sagte der Wirt und schob vier blau lackierte Holzscheiben zu ihm hinüber. »Lange Reise gehabt?«
    »Es ging«, antwortete Garret und sah zu, wie der Wirt das Bier einschenkte. Als eines der Schankmädchen damit zum Tisch gehen wollte, schnappte sich Garret einen der Humpen und lehnte sich wieder an die Theke. »Wenn ich bedenke, dass es Abend ist und Euer Bier so gut, wundert es mich, wie leer es bei Euch ist.«
    »Das ist erst seit Kurzem so«, meinte der Wirt und runzelte erneut die Stirn. »Bis vor zwei Tagen hättet Ihr Mühe gehabt, hier einen Tisch zu finden. Aber jetzt traut sich kaum mehr jemand auf die Straße. Und das alles nur, weil dieser Graf Lindor das Kommando über die königlichen Truppen übernommen hat!«
    »Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?«, fragte Garret interessiert.
    »Vorher hatten die königlichen Truppen zu viel Zeit und zu viel Sold. Sie ließen die Kassen ordentlich klingeln, und auch wenn nicht jeder sie gerne sah, waren sie doch erträglich. Jetzt aber hat Lindor sie zurückgepfiffen und dafür seine Kettenhunde von der Leine gelassen.« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Es hieß immer, der Graf sei ein gerechter Mann, obwohl er diesem Belior dient. Aber mittlerweile zweifle ich daran. Genauso wie an seiner Vernunft. Er muss doch wissen, dass er mit dem, was hier geschieht, das Wohlwollen mit einem Schlag vernichtet, das sich die Königlichen in den letzten beiden Jahren mit ihrem Gold erkauft haben.« Der Wirt sah durch eines der offenen Fenster nach draußen auf den Marktplatz, wo einige Händler bereits begonnen hatten, ihre Stände abzubauen, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. »Er schürt damit nur Unruhe, das muss ihm doch bewusst sein!«
    »Vielleicht interessiert es ihn nicht«, mutmaßte Garret. »Wer könnte sich ihm schon entgegenstellen? Seine Truppen sind doch sicher in der Übermacht.«
    »Er kann sich seine Truppen sonst wohin stecken! Ah, verzeiht, mein Freund, ich wollte nicht ausfallend werden. Aber wisst Ihr, noch weht hier nicht die Flagge Thyrmantors … und das sollte dieser Lindor nicht vergessen!« Er wies mit den Augen hinauf zur Decke des Gasthofs. Dort war, wenn auch nur schwach, das Wappen des Greifen mit dem gesenkten Schwert zu sehen. »Dies hier ist Greifenland. Niemals hat bei uns eine fremde Macht ihr Banner erhoben, und das wird auch nicht geschehen!«
    »Aber wie wollt Ihr das verhindern?«, fragte Garret betrübt. »Die Königlichen sind überall. Und wer würde es schon wagen, sich gegen sie aufzulehnen?«
    »Es gibt eine Prophezeiung, junger Ser. Kennt Ihr sie nicht? Der Greif wird sich erheben!«
    »Nun, wenn dies hier die Greifenlande sind«, begann Garret, ebenfalls den Blick zur Decke erhoben, »dann heißt das wohl, dass Ihr Euch bald erheben werdet?«
    Der Wirt sah ihn verwundert an.
    »Woher stammt Ihr, dass Ihr das nicht wisst? Der Greif steht für Alt Lytar, eine verwunschene Stadt im Süden, hinter dem Königspass.«
    »Ich hörte davon. Wurde sie nicht von einer Göttin vernichtet? Ihr sagtet, dies hier sei Greifenland … wenn es die andere Stadt nicht mehr gibt, die Greifenlande aber noch bestehen, wer wird sich dann erheben müssen?«
    Der Wirt, der schon wieder dabei war, die Theke zu putzen, erstarrte in seiner Bewegung und sah Garret überrascht an.
    »So habe ich das noch nie betrachtet.«
    Garret zuckte die