Das Erbe des Greifen
ich das denn wissen?«, entgegnete Argor. »Ich habe einiges von Euch gelernt, Meister Knorre, und auch über Euch. Ihr vermeidet es zu lügen, aber die ganze Wahrheit hört man selten. Ich sah Euch mehrmals täglich mit diesem Stab meditieren … Anfangs habt Ihr einmal behauptet, Ihr wüsstet nicht viel über die Magie, die in ihm steckt. Vielleicht war das ja die Wahrheit, aber inzwischen stimmt es wohl nicht mehr. Ich brauche ihn ja nur anzusehen, um zu wissen, dass Ihr ihn wieder aufgeladen habt.
Leonora, Eure Tochter Sina und Ihr selbst … Ihr drei riecht geradezu nach Magie und Verschwörung. Also frage ich Euch gar nicht erst, damit Ihr für mich die Wahrheit nicht verdrehen müsst.«
»Eine weise Entscheidung«, tönte Leonoras Stimme von der Tür her. Sie kam herein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich erschöpft dagegen. »Ich kenne ihn nun wahrlich lange genug, es ist die einzige Art, ihn zu ertragen.«
»Du siehst erschöpft aus«, stellte Knorre mit erkennbarer Beunruhigung fest. »War es … war es schlimm für dich?«, fragte er besorgt, ohne auf ihre Worte einzugehen.
Leonora seufzte.
»Ja, aber nicht so, wie du vielleicht denkst«, sagte sie. »Du bist ein verdammter Querkopf und willst einfach nicht sehen, was wir hier tun.«
»Da hast du Recht«, gab Knorre zurück. »Ich will es nicht sehen.«
»Sina und ich, wir geben uns als Kurtisanen aus, doch in Wahrheit sind wir keine! Über meinen geheimnisvollen Gönner spekuliert die halbe Stadt, aber es gibt ihn gar nicht! Ich gebe rauschende Bälle, flirte, unterhalte mich mit meinen Gästen, und manchmal sind auch andere Frauen anwesend. Was die dann tun, ist ihre Sache. Aber Sina gehört genauso wenig zu ihnen wie ich! Wenn sie einen Mann findet, der ihr gewachsen ist, wird sie unschuldig in diese Verbindung gehen.« Sie schmunzelte ein wenig. »Allerdings wird sie über gewisse Dinge besser informiert sein als andere Jungfern … der Glückliche dürfte zu beneiden sein.«
Knorre sah sie wortlos an, dann schüttelte er müde den Kopf.
»Vier Nächte lang habe ich die schlimmsten Gedanken gehabt, hättest du nicht schon früher etwas sagen können?«, fragte er schließlich in vorwurfsvollem Ton. »Du hast mich glauben lassen …«
»Seht Ihr, Argor, so ist er«, rief Leonora und warf die Hände in die Luft. »Er bildet sich irgendetwas ein, nimmt das Trugbild für wahr, und wenn es sich dann als falsch erweist, sind die anderen schuld daran!«
Argor trat hastig einen Schritt zurück und gab mit einer Geste zu verstehen, dass er sich aus diesem Streit heraushalten werde.
»Du hättest etwas sagen können!«, rief Knorre erzürnt.
»Und du hättest besser von uns denken können! Wie soll ich mich denn fühlen, wenn du mich für fähig hältst, meine eigene Tochter fremden Männern zuzuführen!«
»Ich habe doch gesehen, wie sie gekleidet war!«, dröhnte Knorre. »Was soll ich denn da anderes denken!«
»Etwas anderes als andere jedenfalls! Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass alles auffliegen könnte, wenn wir uns wie normale Bürger geben und kleiden würden?«
»Aber was könnte denn dann auffliegen?«, rief Knorre verzweifelt.
Sie schüttelte den Kopf.
»Dass wir hier predigen und beten, was denn sonst? Dies hier ist ein Tempel der Mistral. Und die meisten unserer … Gäste kommen nicht um der Fleischeslust willen, sondern um vor Mistrals Bild zu beten. Bei der Göttin!«, rief sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Dass du so schlecht von uns denken konntest!«
Knorre stützte sich schwer auf seine Krücke und sah sie fassungslos an.
»Das hier … ist ein Tempel der Göttin?«, stammelte er.
»So ist es«, erwiderte Leonora und verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. »Niemand würde das vermuten, nicht wahr? Genau deshalb haben wir diese Tarnung gewählt! Wir sind hier, weil wir den Gläubigen Hilfe und Beistand gewähren!«
Knorre humpelte zum Bett hinüber und ließ sich schwer in die Kissen sinken.
»Es tut mir leid«, seufzte er schließlich.
»Es tut dir leid?«, fragte Leonora mit einem ungläubigen Unterton in der Stimme. »Du entschuldigst dich? Ist das dein Ernst?«
»Ja, verdammt!«, fauchte Knorre. »Bist du jetzt zufrieden?«
Sie schmunzelte. »Ja. Durchaus. Ich hätte nur nicht gedacht, dass ich diesen Tag jemals erleben würde!«
»Gut. Jetzt hast du ihn erlebt. Aber nun sag mir endlich, was mit diesem Priester des Darkoth war?«
»Es war nicht leicht, ihm etwas vorzugaukeln. Sina war
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