Das Erbe des Greifen
am Seil.
»Niemand stellt sich über meinen Richterspruch!«, rief der Mann, während die Soldaten um ihn herum blankzogen. »Dieser Mann hier«, rief er und deutete mit dem blutigen Dolch auf den Alten, der am Strick zappelte, »beging Verrat! Ich bin euer Lehnsherr, niemand sonst! Es gibt keinen Greifen, der euch retten wird! Das sind Hirngespinste, hört ihr? Geht zurück zu euren Höfen, und überlasst die Politik denen, die etwas davon verstehen!«
Meliande nahm diese Worte kaum wahr, es war der Blick des Gehängten, der sie bannte, und das erlöste Lächeln auf seinen Lippen, obwohl er kurz vor dem Ersticken stand. Es war wie eine Aufforderung an sie, sich zu erkennen zu geben und einzufordern, was des Greifen war. In diesen Augen lag eine Hoffnung, die sie erschreckte. Und doch … dieser brechende Blick ließ ihr keine andere Wahl.
Sie hob die Hand, und ein feuriger roter Funken stieg auf, um dann im flachen Bogen hinüberzuschießen zu dem Baum und dem Gehängten, wo er das feste Seil durchschlug, an dem der Unglückliche zuckte. Keuchend fiel der Mann zu Boden, gerettet, aber nur für den Moment, denn die Folgen ihrer impulsiven Handlung wurden Meliande schnell deutlich.
»Ergreift sie!«, rief der junge Mann, wohl niemand Geringeres als der Baron selbst, und wies mit dem blutigen Dolch auf Meliande. »Wenn sie ihn so sehr mag, soll sie neben ihm baumeln!«
Nur einen Schritt taten die Söldner des Barons in Meliandes Richtung, dann hielten sie verschreckt inne, während sich die Bauern, die eben noch wütend ihre primitiven Waffen geschwungen hatten, angstvoll auf den Boden warfen.
Das Rauschen von Schwingen erfüllte die Nacht, und wie in einem Windsturm landete Marten mit seinem Falken zwischen Meliande und dem Baron mit seinen Söldnern.
»Wagt es nicht, sie anzugreifen!«, dröhnte Martens Stimme wie das Strafgericht aus dem Munde eines erzürnten Gottes. »Wer sie berührt, ist des Todes, denn sie ist die Erbin des Greifen, Meliande von Lytar, gesegnet von der Göttin Mistral, wiedergeboren durch die Gnade Loivans, dem Gerechten, gekommen, um Belior ein Ende zu bereiten und die Greifenlande zu befreien!«
Schon als Kind hatte Meliande gelernt, dass es ein Wort gab, das niemals über ihre Lippen kommen durfte.
Doch jetzt starrte sie fassungslos auf Marten, der stolz auf seinem Sattel saß, einen langen silbernen Stab auf seine Hüfte gepresst, dessen Ende fahl schimmerte.
»Scheiße«, hauchte sie ungläubig.
»Das trifft es wohl am besten«, kommentierte Hendriks fassungslos.
»Was … was soll das?«, stammelte der Baron und starrte ungläubig auf den bronzenen Falken, der ihn mit rot glühenden Augen musterte. Dann fing er sich wieder. »Hauptmann Hugor! Erschießt den Kerl auf seinem Vogel dort und bringt mir diese Frau!«
»Das kann ich leider nicht zulassen«, sagte Marten ruhig, senkte den Stab und richtete ihn auf den Baron. Ein fahler Strahl schoss daraus hervor, traf den Baron und hinterließ in dessen graviertem Brustpanzer ein faustgroßes Loch. Einen Moment stand der Getroffene noch, mit einem Ausdruck schieren Unglaubens auf dem Gesicht, dann sank er leblos zu Boden.
»Niemand erhebt ungestraft die Hand gegen die Prinzessin«, erklärte der Falkenreiter seinem verstört dreinblickenden Publikum. Dann drehte er sich in einem Sattel nach hinten und verbeugte sich leicht vor Meliande. »Wie Ihr seht, habe ich die Lanze gefunden«, teilte er ihr mit. »Mein Falke hat sich an sie erinnert.« Ein leiser Vorwurf lag in seiner Stimme. »Ihr hättet mir sagen könnten, dass er sie unter seinem Gefieder trägt!«
»Ich wollte genau das verhindern, was soeben geschehen ist«, entgegnete Meliande tonlos, doch Marten für seine Tat zu tadeln kam ihr gar nicht in den Sinn, denn sie war zu sehr von dem Schauspiel abgelenkt, das sich direkt vor ihren Augen abspielte. Ein Bauer nach dem anderen erhob sich vom Boden, aber nicht um aufzustehen, sondern um sich mit gesenktem Kopf vor ihr hinzuknien. Auch die Söldner des Barons knieten nieder, ebenso wie Hendriks und seine Leute, die nacheinander von ihren Rössern abgestiegen waren.
Das erste Mal seit langer Zeit zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf Martens Gesicht. Er glitt von seinem Falken herunter, der daraufhin zusammenschrumpfte, bis er so klein war, dass er auf seiner Schulter Platz fand. Ein Raunen ging durch die Menge, als dieses neuerliche Wunder geschah. Stolz schritt der Falkenreiter auf Meliande zu … dann beugte auch er
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