Das Erbe des Greifen
geschah in der Nacht zu meinem sechzehnten Geburtstag«, gab ihm Meliande leise Antwort.
»In Lytara ist man mit sechzehn erwachsen genug, um alle Pflichten zu übernehmen. War es auch so in Lytar?«
Sie nickte.
»Also wart Ihr alt genug, um gekrönt zu werden?« »Ja, Marten. Aber ich warte noch immer auf deine Erklärung.«
»Sie ist einfach. Aus welchem Grund könnte Loivan, der Gott der Gerechtigkeit, Euch in das Alter zurückversetzt haben, das Eurem Alter in der Nacht der Katastrophe entspricht? Er muss es wohl getan haben, weil es gerecht war, nicht wahr? Es ist Eure Bestimmung, Lytar zu führen und die Prophezeiung wahr werden zu lassen, die wir alle aus Eurem Mund zum ersten Male hörten. Denn wer könnte dazu geeigneter sein als Ihr, die Ihr um die Fehler der Vergangenheit wisst? Wenn Ihr führt, werden wir Euch folgen! Denn schon einmal habt Ihr uns gerettet. Doch solange niemand weiß, wer Ihr seid, wird es Zweifler geben. Deshalb habe ich verkündet, was ein jeder hier schon lange hätte wissen sollen.«
»Aber warum jetzt, warum hier und heute?« »Ihr wisst es nicht?«, fragte Marten und schüttelte erstaunt den Kopf. »Lytara ist ein kleines Dorf. Wir sind allein dort, allein in einem Tal, das um so vieles größer ist, als ich früher einmal dachte. Damals kam kaum jemand von uns aus dem Tal heraus. Und warum auch? Jenseits des Passes gab es nichts, was für uns von Interesse war. Doch nun stehen wir in den Greifenlanden, hier leben Zehntausende. Auch sie traf der Fluch, wenngleich es nicht sofort ins Auge fällt. Denn die Menschen hier waren dazu verdammt zu warten. Auf uns Hoheit. Auf Euch. Ihr seid nicht nur ihre Hoffnung; für die Greifenlande seid Ihr mehr, Ihr erlöst die Menschen aus einem langen Schlaf. Deshalb nutzte ich diese Gelegenheit, um zu verkünden, wer Ihr seid, Hoheit. Es war das einzig Richtige. Und der Baron?« Marten zuckt die Schultern. »Er war Euch den Treueid schuldig. Hätte ich ihn am Leben gelassen, wäre er ein Dorn in Eurem Fleische geblieben, und ein giftiger dazu. Ich erkunde diese Lande schon seit Tagen, auf Euer Geheiß hin, Hoheit. Ich sah und hörte, was er tat. Es ist nicht schade um ihn … mit seinem Tod hat er Euch einen Dienst erwiesen.«
Einen langen Moment schwieg Meliande. Dann seufzte sie.
»Wie kommst du nur auf solche Gedanken?«, fragte sie dann sanft.
»In den Nächten schlafe ich nicht mehr. Also durchstreife ich die Lande auf dem Rücken meines Falken. Unter mir liegen die fernen Lichter … und ich denke dann, wie klein doch alles ist. Man sucht nach dem Sinn der Dinge, nach den Gründen für den eigenwilligen Lauf des Schicksals. Ich denke, es gibt einen Grund dafür gibt, dass Ihr wiedergeboren wurdet und ich einen Falken reite, der mein Tod sein wird. Damals, als Lytar unterging, wurde etwas unterbrochen, etwas blieb ungetan, unvollendet. Es muss nun abgeschlossen werden, damit der Kreis sich schließt! Ich handele so, wie ich dieser Aufgabe am Besten zu dienen glaube. Ihr habt Euch angehört, was ich zu sagen hatte, dafür meinen Dank. Ich erwarte Euer Urteil in tiefster Demut.« Mit diesen Worten sank er auf ein Knie und beugte den Kopf vor ihr.
»Bist du ganz allein zu diesen Schlüssen gekommen?«, fragte Meliande verwundert.
»Nein«, antwortete Marten mit gesenktem Blick. »Ich sprach viel mit Meister Pulver, mit Barius und auch mit meinem Vater. Er ist verzweifelt, doch diese Gespräche geben ihm den Frieden wieder, den ich ihm nahm, als ich den Falken stahl. Es macht einen Unterschied, ob man sein Leben leichtfertig verspielt oder für sich einen Sinn findet und einer Sache dient, die größer ist als man selbst.«
»Sag mir eines, Marten. War es Pulver, der Euch geraten hat, meine Herkunft zu offenbaren?«
»Er riet es mir nicht. Wir unterhielten uns darüber, was nötig wäre, um die Greifenlande zu einen, um ihnen einen gemeinsamen Willen und ein Symbol zu geben, das den Menschen Halt verleiht und sie an Größeres glauben lässt. Er riet es mir nicht, doch als ich verkündete, wer Ihr seid, klangen mir seine Worte in den Ohren.«
»Danke«, sagte Meliande leise. »Du darfst dich erheben, Marten, ich habe nicht gefordert, dass du vor mir kniest.«
Marten erhob sich. »Wäre es gefordert worden, hätte ich es nicht freiwillig tun können«, sagte er lächelnd, und für einen Moment sah sie in seinen Gesichtszügen wieder den Jungen von einst.
»Wollt Ihr nicht wissen, was Meister Pulvers Worte waren?«
»Was sagte
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